Der Hügel des Windes
Skelette sagte er zu seinen Männern: »Breitet eine Decke über sie! Sobald die Carabinieri hier sind, gehen wir. Wir packen sämtliche antiken Funde in eine Kiste und bringen sie ins Museum von Reggio.«
Während er sich zu der Casella begab, um seine Sachen zusammenzusuchen, blickte er Michelangelo fest in die Augen, ein eindringlicher, rätselhafter Blick. Dann wandte er sich dem Meer zu. Seine letzten Worte klangen sarkastisch: »Von wegen Nekropolis des mythischen, friedlichen Krimisa, dieser Hügel ist die Grabstätte blutiger Geheimnisse!«
12
»Meine liebe Frau Lina und meine lieben Kinder Michelangelo und Sofia Antonia, mir geht es gut, und ich hoffe, Euch auch. Die Insel ist sehr, sehr schön. Ich denke Tag und Nacht an Euch. Küsse auch an Mama und Papa. Euer Arturo.«
Das war aus dem Vater geworden: eine Ansichtskarte, die seine Existenz bestätigte und die in leichten Variationen sanft über den Trennungsschmerz hinwegglitt.
Michelangelo vermisste den Vater, seinen Mut, seine Erfahrung, auch wenn er dies vor den anderen niemals zugab. Wenn mein Vater hier wäre, dachte er, würde er alles tun, um herauszufinden, was auf unserem Hügel passiert ist. So aber schien sich inner- und außerhalb der Familie niemand auch nur entfernt für die Sache zu interessieren, niemand wollte etwas darüber hören, als sei sie es nicht wert, als habe man zwei Tiergerippe ausgegraben und nicht die Skelette von Christenmenschen.
Anfangs äußerte Michelangelo seine Enttäuschung, mit gerunzelten Brauen und zornigen Blicken.
»Wenn du so düster guckst, mit dem Schatten zwischen den Augen, bist du genau wie dein Vater: Ihr wollt immer gleich die ganze Welt haben, und am liebsten auf einen Streich«, sagte Nonna Sofia. »Geduld braucht man, das gilt für alles im Leben.« Dann umarmte sie ihn plötzlich. »Wie groß du geworden bist, fast schon ein junger Mann. Es wirdZeit, dass du dir eine hübsche Braut suchst«, flüsterte sie ihm ins Ohr, um ihn aufzuheitern.
Wenn Ninabella und die Mutter im Raum waren, befreite er sich schnell aus ihrem Griff und ging zum Großvater ins Schlafzimmer. Der hörte ihm wenigstens still zu, den Blick im Meer seiner wabernden Erinnerung verloren. Und dieses Meer nutzte Michelangelo, um seine wilden Blicke hineinzuwerfen und seine Klagen. Er war elf Jahre alt, fühlte sich schon erwachsen, war jedoch nicht groß genug, um zu wissen, dass die Leute in seiner Gegend schnell vergaßen, da der viel schwerer wiegende Kampf ums tägliche Überleben ihre Gedanken bestimmte. Und um die ganze Wahrheit zu sagen, es waren nicht die ersten Skelette, die in der Umgebung ausgegraben wurden, und es würden nicht die letzten sein.
Als wäre das nicht genug, waren in jenen Monaten drei Grubenarbeiter umgekommen, Söhne eines früheren Kumpels von Nonno Alberto, zerschmettert unter Schwefelbrocken im Stollen zwischen Strongoli und San Nicola. Zwei von ihnen kamen aus Spillace. Das Wehgeschrei der Mütter und Frauen, als die Särge mit den unkenntlichen Leichnamen ins Dorf gebracht wurden, beförderte noch die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber den namenlosen Skeletten vom Rossarco. Und abgesehen davon, dass die Carabinieri ohne viel Aufsehen weiter ermittelten, gerieten die »blutigen Geheimnisse« sehr bald in Vergessenheit.
Es war nicht einfach, die Identität der beiden Toten herauszufinden, denn in jenen Jahren hatte man diverse junge Männer aus den Augen verloren, von denen viele illegal nach La Merika ausgewandert waren. Zum Glück kam bei einem Abgleich zwischen zwei Carabinieri-Kasernen heraus, dass in denselben Junitagen des Jahres 1902 das Verschwindeneines jungen Mannes aus Cirò und eines aus Spillace gemeldet worden war. Beide waren wegen Viehdiebstahls und verschiedener Prügeleien angezeigt, einer von ihnen hatte im Gefängnis gesessen, weil er einen Mann niedergestochen hatte. Kurz gesagt, sie waren keine Heiligen gewesen. Daraus erwuchs die Gewissheit, dass es sich um eine Abrechnung innerhalb der lokalen Verbrecherkreise gehandelt haben musste.
Gewissenhaft hatte man auch Michelangelos Familienmitglieder befragt, da die Skelette auf dem Rossarco gefunden worden waren, doch nicht einmal die Angehörigen der Ermordeten argwöhnten eine Beteiligung der Arcuris, und sei es nur indirekt. Auf diese Weise wurde die Akte im Laufe von drei, vier Monaten geschlossen. Ein schöner Grabstein oben drüber, auf den jeweiligen Friedhöfen der beiden Toten, und amen.
Der Einzige, der sich
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