Der Hügel des Windes
Alle ahnten, woran er in diesem Moment dachte.
Um die Stimmung zu lösen, sagte Michelangelo in einem Ton, der scherzhaft gemeint war, ihm jedoch großspurig geriet: »Sobald ich den Einberufungsbefehl bekomme, zerreiße ich ihn. Ich werde nicht Soldat, ich bin ja nicht verrückt, da leiste ich schon lieber Mino Gesellschaft, wir verstecken uns beide in der Timpalea, da findet uns nicht einmal der Herrgott.«
Der Vater erwiderte mit überraschender Aggressivität: »Duweißt, was für einen Stuss du da redest. Nur ein Esel kann sich so was ausdenken. Wer sich im Krieg für besonders gewitzt hält, endet mit einer Kugel im Kopf.«
»Pà, das war ein Scherz, sogar der Wind hat kapiert, dass das nicht ernst gemeint war.«
»Über solche Sachen macht man keine Scherze.«
Als seine Familie schon das Geschirr einpackte und die Reste des Picknicks, griff Arturo zur Gitarre und versuchte im Schneidersitz unter dem großen Olivenbaum die Anspannung mit ein paar wilden Akkorden und schnellen Trommelfolgen der Finger auf dem Klangkörper zu lösen. Anfangs waren die Improvisationen genauso schwarzlaunig wie er, dann wurden sie melodiöser, sehnsuchtsvoller, und Arturo veränderte sich von Arpeggio zu Arpeggio, seine Stirn glättete sich, und sein Blick schweifte träumerisch in die Ferne, die Stimme jung und ein wenig unsicher wie zu Zeiten der Abendständchen unter Linas Fenster.
Die verliebten Augen seiner Frau füllten sich mit Tränen. Sie allein ahnte, dass dies der letzte frohe Tag im Leben ihres Mannes und ihrer vereinten Familie sein würde.
25
»Und eins lass dir gesagt sein, Michè, sei immer auf der Hut, dann passiert dir nichts. Und schreib, sobald du da bist, hörst du?« Der Vater sprach im Namen der ganzen Familie, die Frauen schluckten an dem Kloß in ihrem Hals, versuchten, nicht zu weinen, und starrten auf den Zug am einzigen Gleis des Bahnhofs von Cirò.
Michelangelo hatte den Einberufungsbefehl in der Tasche, unübersehbar der Bestimmungsort: Garibaldi-Kaserne in La Spezia. Er antwortete dem Vater mit den immer gleichen Worten, wie er in den vergangenen Wochen jeden Ratschlag der Familie beantwortet hatte: »In Ordnung, macht euch keine Sorgen, ich werde aufpassen und so bald wie möglich schreiben.«
Das Warten hatte also ein Ende. Dank seiner Einschreibung an der Universität hatte er die Einberufung um ein Jahr hinauszögern können, doch nun fühlte er sich wie in der Schwebe zwischen Licht und Dunkel, ein loses Blatt im Wind. Mehr als das Schreckgespenst des Krieges plagte ihn das Gefühl der Leere, das er empfand, der erzwungene Gehorsam gegenüber einem seelenlosen Blatt Papier, seine Abreise auf Order irgendwelcher schwarzbehemdeter Unbekannter. An die Schrecken des Krieges dachten umso mehr seine Angehörigen, vor allem der Vater, der ihn erlebt hatte, und die Großmutter, die im Krieg Blut von ihrem Blut verloren hatte.
Der Vater drückte ihn in einer kurzen, festen Umarmung an sich. Michelangelo stieg in den Zug und stellte sich an das erste offene Fenster. Neben ihm standen andere junge Männer und suchten die Blicke ihrer Angehörigen, die in der dichten Menschenmenge auf dem Bahnsteig verschwammen.
Langsam fuhr der Zug los, Taschentücher flatterten, und Hände reckten sich in den strahlenden Himmel, als wollten sie ihn festhalten. Es war ein Tag im Mai. Der Duft des Hügels streifte Michelangelo wie eine unerwartete Liebkosung, als der Zug für einige Sekunden dicht den Hang des Piloru passierte, Zeit nur für einen zynischen Gedanken, den einst auch sein Vater gehabt hatte: Ich muss überleben und zurückkehren, ich muss, so jung darf ich nicht sterben, ich will wieder diesen Duft atmen.
Dann verschwand der rote Hügel, verschwand der Duft.
Und es begann eine Zeit der Ungewissheit. In Spillace häuften sich die Gerüchte über den Krieg, vermischten sich, widersprachen sich, ließen Hoffnung aufkeimen oder sterben: Die Amerikaner sind auf Sizilien gelandet, das Nazi-Heer hält stand, das ist die reine Wahrheit, die italienischen Soldaten fliehen, Mussolinis Stunden sind gezählt, es heißt, der König flieht aus der Hauptstadt, alles nicht wahr, die Deutschen sind unbesiegbar, und Mussolini feiert einen Sieg nach dem anderen, wer sagt das denn? Das Gegenteil stimmt, ihr werdet schon sehen. Zu hören im Radio des Dorfarztes, das jeden Abend in voller Lautstärke lief und eine Schar junger und alter Leute anlockte, die unter dem Fenster den Lügen der Nachrichten lauschten.
Am
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