Der Hügel des Windes
auf der Flucht aus San Nicola oder irgendein Dämon aus der Hölle, den ich nicht nennen will«, antwortete Donna Lina.
»Kennt Ihr diesen armen Mann?«, fragten die Männer wieder, während sie vorsichtig die Schlinge lösten und ihn am Fuß des Olivenbaums ablegten.
Statt zu antworten, begannen die drei Frauen wieder nach Mann, Vater, Sohn und Heiligem Geist zu rufen, ohne ein Lebenszeichen zu erhalten. Der Wind hatte sich plötzlich gelegt, verschluckt vom Meer, das still gegen die Felsen klatschte. Man hörte nur das verzweifelte Echo ihrer Rufe: »Arturo, wo bist du, antworte, um Himmels willen, wo bist du?« Arturo schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
Keiner achtete auf Ninabella, die voller Verzweiflung in Williams tote Augen starrte und in der Morgensonne vor Kälte zitterte. Wo war der Vater? Wo war sie? Vielleicht in einem Traum, und gleich würde sie die Stimme des Vatershören, seine schwielige Hand sanft auf ihrem Gesicht spüren, sie brauchte ihn nach so einem schlimmen Traum: Geschwind würde sie aufstehen wie damals als Kind, und zusammen würden sie für immer den blutroten Hügel verlassen.
Rot
Von diesem Tag an hatte sie den roten Hügel nicht mehr betreten, das erzählte mir Ninabella während einer Autofahrt nach Spillace. Wie jedes Jahr hatte ich sie kurz vor Ferragosto am Flughafen von Lamezia abgeholt. Sie schien besser in Form zu sein und redseliger als sonst. Im Gegensatz zu meinem Vater, der düster geworden war, ein bisschen krumm und vernachlässigt, sah man ihr das Alter nicht an. Auch heute trug sie eine exzentrische Kopfbedeckung, eine Art Königin-Elisabeth-Hut, und ein leichtes, buntes Kleid, das ihren alles andere als gebrechlichen Körper hervorhob.
»Du wirst einfach nicht älter, zia . Wie Sophia Loren«, sagte ich ihr ohne falsche Schmeichelei.
Sie lächelte und zeigte ihre perfekten Zähne: »Londons feuchte Luft hält mich in Form, und der Stress natürlich. Der Stress ist mein Anti-Aging-Vitamin.« Erst als sie mir auf mein Bitten hin die Geschichte vom englischen Piloten erzählte, verdüsterte sich ihre Miene.
Sobald wir die Landstraße in Richtung Dorf eingeschlagen hatten, senkte Ninabella die Augen, hob sie nur manchmal nach vorn oder nach links und vermied sorgfältig den Blick auf die Umrisse des Rossarco – und wohl auch den Gedanken an ihn.
Ich erzählte ihr, dass mein Vater sich vor etwa einem Jahr in der neu hergerichteten Casella niedergelassen hatte, und fragte, ob sie gerne zuerst bei ihm vorbeischauen würde, bevorwir nach Spillace hinaufführen. Mit einem Blick auf die trockene Fiumara erwiderte sie: »Michelangelo wird immer verrückter, statt des Namens hat er von unserem Großvater, Gott hab ihn selig, den Irrsinn geerbt. Wenn er will, kann er mich in unserem Haus besuchen kommen.«
Als wir ins Dorf einfuhren, kurbelte die Tante das Seitenfenster herunter und stützte den Ellbogen darauf, um sich der Hauptstraße mit dem strahlendsten Lächeln zu präsentieren. Mit geöffneter Hand grüßte sie jeden, der in unsere Richtung schaute, egal ob bekannt oder nicht. Die älteren Leute erkannten sie immer gleich an ihren eigenartigen Hütchen und sagten laut: »Königin Ninabella ist wieder da.«
Ich trug ihren Koffer ins Haus und fuhr später auf den Rossarco.
Meinem Vater sagte ich, dass seine Schwester ihn lieber im Dorf treffen würde, und lud ihn zum Abendessen ein. Unter Brummen und Schnaufen willigte er ein: »Ich dachte mir schon, dass sie nicht heraufkommen würde, die wird ihre Meinung nicht mehr ändern, solange sie lebt. Sie hat noch immer denselben Sturkopf wie damals, obwohl sie seit fünfzig Jahren in der Großstadt wohnt.« Dann nahm er drei Flaschen vom Gaglioppo-Wein und einen Korb Feigen aus der Vorratskammer, stellte sie in den Kofferraum meines Wagens, und wir fuhren los.
In Spillace musste ich anhalten, damit er seinen Monatseinkauf an Zigaretten und Nudeln besorgen konnte. Als er die Treppe zum Haus hinaufstieg, warf er einen kritischen Blick auf die Petersilien- und Basilikumtöpfe auf den Stufen und hielt mir vor: »Gib den Pflanzen doch mal ein bisschen Wasser, die vertrocknen ja!« Er war sehr angespannt.
Ninabella erkannte die Stimme des Bruders und lief ihmentgegen. Sie umarmten sich lange und wechselten flüsternd ein paar Worte. Dann gingen wir durch den Flur zum Balkon, wo meine Tante den Tisch gedeckt hatte. Sie selbst saß mit dem Rücken zum Hügel, wir mit Blick auf ihn. Ich befürchtete, dass die Spannung,
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