Der Hügel des Windes
drängendsten war.
Er selbst setzte seine Suche in der Timpalea fort. Er fand das über und über mit Efeu berankte Flugzeug, das mit dem Heck noch in den Steineichen festhing. Es sah aus wie die grüne Skulptur eines Fliegers, der sich gerade über dem Abgrund in die Lüfte erheben will. Er griff mit einer Hand ins Efeu und beugte sich so weit wie möglich über den Abgrund.
»He, Papa!«, schrie er einige Male. Seit über drei Jahren hatte er diese vertraute Anrede nicht mehr ausgesprochen, und es versetzte ihm einen Stich ins Herz.
Aus der Tiefe des zugewachsenen Talkessels hörte er das Echo seiner eigenen Stimme, kraftlos und absurd wie die Vorstellung, der Vater könne sich wirklich im dornigen Schlund der Timpalea verstecken. Unmöglich, dachte er, unmöglich, dass er hier ist. Oder wenn, dann nur tot.
Ruckartig löste er den Griff, die Hand schmutzig vom Efeu, und fuhr damit über sein Gesicht, wie um den schlimmen Gedanken fortzuwischen. Im selben Moment glaubte er, jemanden hinter sich zu spüren. Er drehte sich um und sah nur die Wipfel der Steineichen, die im Wind raschelten.
Es war nicht das erste Mal, dass er sich beobachtet fühlte, und auch nicht das letzte. Das passierte ihm schon seit seiner Kindheit: Der Wunsch, den Vater wiederzusehen, verwandelte sich in stumme Blicke, in jähe Windstöße der vertrauten Stimme.
»So ging es mir auch bei meiner Rückkehr aus dem Krieg«, sagte er abends zu seiner Familie und begann zu erzählen.
Er wandert schon seit zwei Monaten, hat das im Bombenhagelzerstörte Deutschland durchquert, und in den letzten Tagen erklimmt er die Berge von Südtirol; zu beißen nichts als bittere Wurzeln, hin und wieder eine rohe Kartoffel und ein paar gestohlene Äpfel, immer mit dem Risiko, gelyncht zu werden. Er ist am Ende, vom Hunger ausgezehrt, schleppt sich voran wie ein Bettler, langsam, keine Kraft mehr in den Beinen, die Arme schlapp, wenn es so weitergeht, kann er kaum hoffen, Spillace lebend zu erreichen. Er bricht bewusstlos zusammen, einmal, zweimal, da hört er hinter sich eine vertraute Stimme: »Die Münze«, sagt die Stimme, nur dieses Wort. Er sieht den Vater in einem Licht erstrahlen, das auch die Berge umfängt, so schön wie bei seiner Rückkehr aus der Verbannung. Er hat nicht die Kraft, etwas zu erwidern oder ihn zu umarmen, der Vater schaut ihn mit durchsichtigen, leeren Augen an wie ein Phantom, »die Münze«, sagt er wieder und verschwindet. Er rafft seine letzte Kraft zusammen, schleppt sich zu einem Bauernhof und tauscht die Goldmünze gegen Milch und Essen satt und ein Lager im Stall. Als er nach zwei Tagen und zwei Nächten aus tiefem Schlaf erwacht, füllt ihm die Frau des Bauern voll Mitleid den Brotbeutel mit Roggenbrot und Käse und wünscht ihm zum Abschied lächelnd »Viel Glück«.
»Arturo ist dein Schutzengel«, sagte die Großmutter, von der Geschichte zu Tränen gerührt. Und er, der den Schutzengel mit der Hand berühren wollte, suchte weiter nach ihm im Sila-Gebirge, in den Küstendörfern, in den Krankenhäusern von Crotone und Catanzaro, in der psychiatrischen Klinik Villa Nuccia. Er schrieb herzerweichende Briefe an das Innenministerium, denen er ein Foto des Vaters beilegte. Wo immer er hinging, fragte er nach einem gewissen Arturo Arcuri: ein schöner, großer Mann, mit Locken, funkelndenAugen und einem Grübchen im Kinn. So beschrieb er ihn damals, so hat er ihn bis heute in Erinnerung.
Die Suche erlahmte in den ersten Oktobertagen, als Michelangelo an die Grundschule von Spillace berufen wurde, wo er Maestro Tavella ersetzen sollte, der nach Catanzaro versetzt worden war. Das war keine Frage von Glück oder Beziehungen, wie seine Neider behaupteten. Die Dörfer im Hinterland von Crotone, einschließlich des seinen, galten als unattraktiv, rückständig, am Ende der Welt gelegen. Wenn sie konnten, wählten die altgedienten Lehrer eine Schule in der Stadt oder zumindest in Ortschaften, die mit dem Zug zu erreichen waren.
Der neue Signor Maestro Michelangelo Arcuri präsentierte sich den Schülern der dritten Klasse mit dem gleichen Elan und Engagement wie Maestro Tavella, dessen Lehrplan und -methoden er auch übernahm: Wie er setzte er nicht auf den Rohrstock, sondern auf Geduld.
Die Arbeit gefiel ihm, er fühlte sich privilegiert. Er gab täglich vier Stunden Unterricht und hatte im Sommer fast vier Monate Ferien, ganz zu schweigen von Ostern, Weihnachten und anderen kirchlichen oder gesetzlichen Feiertagen.
Nachmittags
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