Der Hügel des Windes
ging er häufig auf den Rossarco, der wieder fruchtbar und duftend war wie zu Zeiten des Großvaters und des Vaters. Für die anstrengendsten Arbeiten wie Getreidemahd, Weinlese und Olivenernte holte er sich einen Trupp Tagelöhner zu Hilfe, die normalerweise in Naturalien bezahlt wurden, mit Korn, Most, Öl, »dem besten in ganz Kalabrien«, sagte er mit stolzem Funkeln in den Augen.
Von der Familie ging ihm nur die Mutter manchmal zur Hand. Die Großmutter konnte trotz allem guten Willenkaum mehr die Hühner und die Schweine in den Koben versorgen. Zum Glück war sie noch klar im Kopf: »Ich bin nun geschlagene fünfundsiebzig Jahre alt. Ich danke dem Herrn, dass ich über all die schlechten Nachrichten nicht ganz läppisch im Hirn geworden bin.«
Was Nina betraf, so wäre sie um nichts in der Welt mehr auf den Rossarco gegangen, auch nicht mit einem Gewehrlauf im Rücken. Nachdem sie die Schule endgültig abgebrochen hatte, die Malerei vernachlässigte, saß sie zu Hause und bestickte Laken und Kissenbezüge oder webte am Webstuhl Decken wie alle Mädchen im Dorf, die ihre Aussteuer vorbereiteten. Nur dass sie nicht die geringste Absicht hatte zu heiraten und empört die zahllosen Heiratsanträge zurückwies. Sie war dreiundzwanzig, zur damaligen Zeit schon längst eine alte Jungfer, doch die jungen Männer umschwärmten sie wie die kostbarste aller Trophäen: Von Antlitz und Körper war sie das schönste der Mädchen im heiratsfähigen Alter und obendrein das klügste, noch dazu würde sie sicher eine üppige Mitgift bringen, stammte aus guter Familie, die von allen oder zumindest fast allen respektiert wurde, mit einem Herrn Lehrer als Bruder. Schade nur, dass sie einen Vater hatte, der weder tot noch lebendig war, einen Phantomvater, der aus dem Limbus, in dem er sich befand, weder zum Vorankommen der Familie beitragen konnte noch eine Soldatenrente einbrachte.
Mit den reglosen Gesichtszügen einer Statue saß Ninabella hinter dem Webstuhl oder auf dem Hocker neben den Gefährtinnen, ihre Hände aber waren in ständiger Bewegung und schienen den schnellen Gedanken nachzueifern, die sie für sich behielt. Dachte sie an William oder den Vater? Dachte sie an das Leben, von dem sie geträumt hatte und dassich eines Morgens jäh in einen Alptraum verwandelt hatte? Auch sie spürte nächtens manchmal eine leichte Liebkosung auf der Wange. »Papa?«, fragte sie dann, den Mund noch voll bitterer Träume.
Der Bruder, zurück aus der Bar, verharrte mit angehaltenem Atem einige Sekunden im Dunkeln und schlich, als die Schwester wieder eingeschlafen war, auf leisen Sohlen in sein Zimmer.
27
Bei seiner ersten Begegnung mit Marisa Marengo beeindruckten meinen Vater vor allem ihr frisches Lächeln und ihre mitreißende Art zu erzählen, als erschlössen sich aus ihren von offenen Vokalen überbordenden Worten die drängendsten Wahrheiten des Lebens. Nicht genug für eine Liebe auf den ersten Blick, aber ausreichend, um sie sofort zu mögen und die Erinnerung an sie wie einen guten Wein zu genießen, den man sich in kleinen Schlucken, ohne Hast, auf der Zunge zergehen lässt.
Sie trafen sich in der Aula Magna des Pythagoras-Gymnasiums in Crotone während einer Tagung über Paolo Orsi und Kalabrien , an der zahlreiche Schüler, Lehrer und andere Interessierte teilnahmen. Sie hielt einen Vortrag – »die vielversprechende junge Turiner Archäologin«, so hatte man sie vorgestellt, doch an Entschlossenheit und Wissen stand sie den anderen, erfahrenen Rednern in nichts nach.
Mein Vater saß in der zweiten Reihe, hinter den Ehrenplätzen, und lauschte den Vorträgen mit übertriebenem Herzklopfen. Vielleicht hoffte er, dass Orsis Ausgrabungskampagnen bei der Punta Alice und auf dem Rossarco zur Sprache kämen, oder er fürchtete die Erwähnung des Skelettfundes und des Münzschatzes.
Als habe sie diesen letzten Gedanken aufgefangen und wolle ihm einen Streich spielen, kam Dottoressa Marisa Marengo auf die sogenannten Verwahrfunde und Münzschätzezu sprechen, denen Paolo Orsi mit Expertise und der Kühnheit eines Schatzsuchers nachgegangen war.
Die Schüler, die bis dahin ihr gelangweiltes Gähnen wohlerzogen hinter vorgehaltener Hand versteckt hatten, erwachten mit einem Schlag, ebenso die Lehrer.
Auf die ersten Münzen war ein Unternehmen gestoßen, das riesige Felsbrocken aus den Wassern vor Capo Colonna entnahm und im Hafen von Crotone ablud. Eines Tages im Jahr 1916 wurde vom Meeresgrund vor dem Strand von Punta
Weitere Kostenlose Bücher