Der Hügel des Windes
Armut und das Leid dieser Region, die mich mein Leben lang beschäftigten.«
Am Ende der Tagung näherte sich Michelangelo zögernd dem Rednerpult und stellte sich als Enkel des Bauern vor, der den Münzschatz auf dem Rossarco gefunden hatte.
Umberto Zanotti-Bianco überlegte ein paar Sekunden, strich sich mit seinen feinen Pianistenhänden über das hagere Gesicht und lächelte ihn schließlich an: »Das ist unglaublich, seit langem schon wollte ich auf euren Hügel kommen, weil ich Paolo versprochen hatte, mich um ihn zu kümmern, und auch aus persönlichem Interesse, da mich Krimisas Geheimnis fasziniert. Bedauerlicherweise hat der Faschismus es mir im wahrsten Sinne des Wortes unmöglich gemacht, so wie er auch die Ausgrabungsarbeiten in Sibari durchkreuzte; anschließend verhinderten der Krieg und tausend andere Verpflichtungen mein Kommen.«
»Auch ich wollte Euch nach dem Krieg um eine Ortsbegehung bitten. Aber ich wusste nicht, wie ich Euch kontaktieren sollte ...«
»Seht ihr?«, mischte sich Marisa in einem Anflug von neunmalklugem Fatalismus ein. »Was sich finden soll, das findet sich auch früher oder später.«
»Dann würde ich sagen, dass wir uns so bald wie möglich wiedersehen und die Forschungen zu Krimisa wiederaufnehmen sollten«, schlug Zanotti-Bianco vor. »Zur Zeit arbeiten wir in Santa Caterina dell’Jonio an einigen sozialen Projekten. Sobald wir damit fertig sind, komme ich mit Marisa in Ihr Dorf, wo unser Einsatz sicher auch vonnöten ist. Wir haben einen Wagen mit Fahrer zu unserer Verfügung. Ich hoffe, Sie werden uns herumführen können.«
»Natürlich«, erwiderte Michelangelo errötend. »Mit dem größten Vergnügen!« Und er verabschiedete sich mit einemherzlichen Händedruck zuerst von Zanotti-Bianco und dann von Marisa, die ihn mit ihrem frischen Lächeln erwiderte.
Es war auf der Rückfahrt nach Hause, als Michelangelo in sich eine Beklemmung aufsteigen spürte, vermischt mit bisher unbekannten Zweifeln und einem Gefühl der Machtlosigkeit, das ihn sein Leben lang nicht mehr loslassen sollte. Die Rührung, die er ob der Erzählungen vom antiken Griechenland und den Menschen, die dieses Erbe zu retten versuchten, empfunden hatte, erschien ihm plötzlich schal angesichts der erbärmlichen Lebenswirklichkeit der Bauern, die unter Lebensgefahr die Ländereien der Großgrundbesitzer besetzt hielten.
Durch das Zugfenster betrachtete er das karge Hinterland von Crotone, in dem es von Männern, Frauen, Kindern, Eseln und roten Fahnen nur so wimmelte. Umberto Zanotti-Biancos Abschlussworte echoten unentwegt durch seinen Kopf. Und seine Beklemmung wuchs.
Als er in Cirò ausstieg und von dort zu Fuß nach Spillace ging, sah er sie von nahem, die Bauern, müde und zornig wie der Vater, der gewiss Seite an Seite mit ihnen stehen würde, wäre er nicht verschollen. Welchen Sinn hatte es, unter der Erde nach einer prunkvollen Vergangenheit zu suchen, wie die junge Frau mit dem frischen Lächeln und dem flinken Mundwerk gesagt hatte, wenn die Gegenwart für die meisten die Hölle war?
Im Übrigen war auch die Gegenwart seiner eigenen Familie ein Höllenfeuer unsichtbarer Flämmchen, Mutter und Großmutter schienen verloren ohne Arturo, die Schwester war apathisch und deprimiert, weil sie sich nicht vom Bild des blutüberströmt am Baum hängenden William befreienkonnte und der Vater ihr wie ein ruheloses Phantom im Kopf herumspukte.
Im Dorf herrschte eine gespannte, melancholische Atmosphäre, Weltuntergangsstimmung. Der Wind heulte wie ein hungriger Wolf und wirbelte den Staub mannshoch von den Straßen auf.
Michelangelo schritt über die Hauptstraße mit dem Gefühl, nicht allein zu sein. Um seine Augen zu schützen, beugte er den Kopf nach vorn und sah den Schatten des wilden Windes ihn umflattern: Er wirkte wie der schwarze Mantel des Vaters, den er im Winter immer getragen hatte, und klang auch wie die Stimme des Vaters, ein düsteres Klagen, das mit jedem Schritt anschwoll zum Wutschrei, Protestlied, Widerhall einer Chitarra battente.
28
An Feiertagen deckte Lina für den Ehemann mit, gab eine Portion Tagliatelle mit Lammragout auf seinen Teller und stülpte, damit es nicht kalt würde, einen zweiten Teller darüber, dann schenkte sie dem abwesenden Tischgast Wein ein und aß schließlich mit den anderen, die Ohren immer zur Tür gewandt, als müsse Arturo jeden Moment nach Hause kommen.
Die Familie ertrug dieses Schauspiel mit liebevoller Nachsicht. »Ein bisschen mehr,
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