Der Hügel des Windes
die ich vorher schon zwischen den beiden gespürt hatte, im Lauf des Abends zum Ausbruch kommen würde. Stattdessen unterhielten wir uns ruhig über Ninabellas letzte Ausstellung in Paris und Simonas Schwangerschaft, lobten die Tagliatelle mit Mettwurstsoße, den Wein und die Feigen, widerstanden tapfer der Hitze, den Fliegen und den Mücken, die uns umsirrten.
Die Abendessen auf dem Balkon wiederholten sich auch an den Folgetagen. Es waren die einzigen Gelegenheiten, zu denen meine Tante und mein Vater sich trafen. Manchmal, wenn ich spät vom Strand zurückkam, erwarteten sie mich ans Geländer gelehnt und rauchten schweigend, die Augen halb geschlossen. Sie schienen sich nichts zu sagen zu haben, obwohl sie sich ein Jahr lang nicht gesehen hatten.
Tagsüber trennten sich ihre Wege: Er auf dem Hügel, im Morgengrauen mit seinen marokkanischen Freunden, gegen Abend alleine grabend, in der Mittagshitze unter dem großen Olivenbaum im Schatten sitzend. Sie unverzagt der großen Schwüle trotzend auf ihrer Runde durchs Dorf, mit spontanen Besuchen bei Verwandten und Freundinnen aus Kindertagen, wo sie literweise Eiskaffee trank und immer gelöster plauderte.
In dieser Ferienwoche malte meine Tante kein einziges Mal, sie habe kein Bedürfnis danach, sagte sie mir, obwohl im Kämmerchen alle Utensilien bereitstanden. In Spillace hatte sie seit den blutigen Ereignissen auf dem Rossarco nicht mehr gemalt. Und auch in London hatte sie in der erstenZeit keinen Pinsel angerührt. Dann hatte sie eines Abends Freunde eingeladen. Es gab Rotwein, den ihr der Bruder geschenkt hatte, sie war ein bisschen betrunken oder vielleicht auch nur ungeschickt, jedenfalls führte sie das Glas so ungestüm zum Mund, dass es an ihren Zähnen zerbrach und ihr in Zahnfleisch und Zunge schnitt. Spritzer von Blut und Wein befleckten ihre Seidenbluse und die blütenweiße Tischdecke. Ninabella erbleichte, als habe sich eine alte Wunde geöffnet. Seitdem war die Farbe Rot ihre Obsession, sie begann wieder leidenschaftlich zu malen und alle Trauer ihres Lebens zu verarbeiten, die sie bis zu jenem Abend in einen dunklen Winkel gesperrt hatte, so wie sie es mit den Leinwänden hinter den Heuballen getan hatte, um sie nicht mehr sehen zu müssen. Blutrot, Kardinalsrot, Purpurrot, Sonnenrot, Flammenrot, Weinrot, Rostrot, Karminrot, Sonnenuntergangsrot, Lippenrot, Feuerrot, Rossarcorot, Liebesrot. Sie signierte ihre Werke mit »Ninnabell.A.«. Ihre erste Ausstellung mit dem schlichten Titel Rot war ein Erfolg. Zu diesem Anlass färbte sie sich ihre vorzeitig ergrauten Haare leuchtend rot, verjüngte sich innerlich und äußerlich.
Mitten in der Geschichte erinnerte sich die Tante an meinen Vater: »Was macht unser Einsiedler dort oben? Mir erzählt er ja nichts. Findest du ihn nicht noch komischer als sonst?« Ich sagte ihr die Wahrheit: »Er gräbt. Oder besser, er ist völlig besessen von seinen Ausgrabungen, er misstraut der ganzen Welt, lächelt kaum noch.«
Am Tag vor ihrer Abreise fragte ich sie, was es mit den Skeletten auf sich gehabt habe, auf die Paolo Orsi gestoßen war. Die Tante hielt sich bedeckt, erzählte mir mehr oder weniger das, was ich schon wusste, und schloss mit den Worten: »Ich halte es für einen Fehler, auf dem Hügel zu graben. Dashat auch Nonna Sofia vor vielen Jahren gesagt. Manche Wahrheiten sollte man einfach in Frieden ruhen lassen.« Von den Kriegsjahren hingegen berichtete sie ausführlicher als mein Vater und mit einer gewissen Distanz, als ob die Geschichten sie nicht beträfen.
Am Ende überraschte sie mich: »Warte«, sagte sie. Sie ging in ihr Zimmer und kam nach einer Weile mit einer Goldmünze wieder heraus, die sie mir in die Hand drückte. »Behalte sie. Sie ist antik, wertvoll, glaube ich, ein Geschenk von Paolo Orsi. Dein Vater hatte so eine ähnliche. Ihm hat seine Münze das Leben gerettet. Mir nützt sie nichts, hat nie etwas genützt. Im Gegenteil, seit diesem blutigen Unglückstag wollte ich sie immer ins Meer werfen, weil sie mich an den roten Hügel erinnerte. Als ich nach London floh, habe ich sie in meinem Zimmer im Dorf versteckt: Aus den Augen, aus dem Sinn und aus dem Herzen.«
26
Als er mit dem Meer im Rücken die Straße nach Spillace einschlug, sah er den Rossarco in das milde Licht des Sonnenuntergangs getaucht. Er lächelte ihm zu, sagte: »Ich bin zurück«, und fühlte sich zu Hause, endlich. Gerettet.
Auf dem Steilweg der Abkürzung holte er ein Häuflein Bauern ein, die von der
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