Der Hügel des Windes
Arbeit nach Hause gingen. Sie erkannten ihn zuerst nicht, mit seinem Bart, den langen, von einer gelblichen Staubschicht bedeckten Haaren und ausgezehrt, wie er war, von dem endlosen Fußmarsch, der nur hin und wieder durch wechselnde Verkehrsmittel erleichtert worden war: Züge, Karren, Pferde, Fahrräder, Postautos, Lastwagen.
»Du siehst aus wie der Gekreuzigte«, sagten die Bauern mitleidig und hatten nicht den Mut, ihm zu erzählen, was auf dem Rossarco passiert war. Ein Nachbar ließ ihn auf seinem Esel reiten, damit er das letzte, mörderisch ansteigende Wegstück nicht zu Fuß gehen musste. Selbst er, der ihn gut kannte, brachte es nicht übers Herz, ihm die Geschehnisse zu berichten. Er wollte die Freude der Rückkehr nicht trüben, die ihm ins Gesicht geschrieben stand. Michelangelo immerhin war am Leben, er sah aus wie ein klappriger Geist, aber er lebte.
Zu Hause wurde er von den Umarmungen der Frauen bestürmt, von ihrem heftigen Weinen, unklar, ob vor Glück oder Schmerz. Michelangelo lächelte: »Was habt ihr, ich binzurück, gesund und munter, seht ihr das nicht?« Dann bemerkte er, dass der Vater fehlte, und fragte nach ihm. Es war schon dunkel, was tat er um diese Zeit noch auf den Feldern?
Ninabella war es, die ihm die Wahrheit sagte, sie sprach von Williams schrecklichem Ende, wobei sie sich zwang, nicht zu weinen, und vom Vater, der seit diesem Tag spurlos verschwunden war. Sie hatten ihn überall gesucht, und immer noch warteten sie auf ihn, sagte sie dem Bruder, damit der Schmerz ihn nicht überwältigte. Vielleicht hatte man ihn in ein Konzentrationslager der Nazis verschleppt, vielleicht in ein Gefängnis der Faschisten geworfen, vielleicht hatte er fliehen können und sich den Partisanen angeschlossen oder wer weiß was, vielleicht versteckte er sich in irgendeiner Höhle des Sila-Gebirges und wusste nicht, dass der Krieg zu Ende war, oder er lag in einem Krankenhaus außerhalb Italiens und wurde dort behandelt. »Früher oder später kommt Papa zurück, das spüre ich«, schloss die Schwester und umarmte ihn unter verzweifeltem Schluchzen, das den Optimismus ihrer Worte Lügen strafte.
Die Mutter und die Großmutter hatten keinen Zweifel, zumindest drückten sie ihn nicht aus: »Arturo lebt in irgendeinem Winkel der Erde«, sagten sie. Nonna Sofia träumte nachts von ihm, wie er fröhlich auf seiner Chitarra battente spielte.
»Wenn er lebt, was auch ich glaube«, sagte Michelangelo, »dann finde ich ihn und bringe ihn nach Hause zurück.«
Am nächsten Morgen begann er mit der Suche. Es war August. Der Hügel empfing ihn mit dem hässlichen Antlitz der Verwahrlosung: trockenes Gras und Unkraut, Mastix- und Ginstersträucher, die sich zwischen den übermäßig gewachsenenOliven- und Obstbäumen ausgebreitet hatten, der Weinberg ein Gewirr aus umeinander und um die Stämme der Feigenbäume verschlungenen Ranken. Es wehte ein scharfer Wind. Um den Wald von Tripepi zu erreichen, musste er sich mit Spaten und Hippe den Weg freischlagen. Ein Streichholz oder ein Funkenflug aus der Ferne hätte genügt, um ein Höllenfeuer zu entfachen.
Am ersten Tag kämpfte er sich zu den geheimen Orten durch, die nur er und sein Vater kannten: hinter undurchdringlichem Dornengestrüpp verborgene Grotten in einem der Höcker des Hügels, hoch über der Fiumara. Er suchte nach Zigarettenkippen und Patronenhülsen, nach Fußabdrücken, Strohlagern, nach irgendeiner Spur, die auf den Vater hindeuten konnte. Er fand nichts außer drei vertrockneten Bögen aus Oleanderzweigen.
Mit zerkratzten Händen kehrte er nach Hause zurück und brachte einen Korb köstlicher Feigen mit und ein Bündel auf Englisch beschriebener Blätter. »Die habe ich versteckt in einem Holzkästchen hinter den Heuballen gefunden. Es steht sogar eine Adresse drauf, in Druckschrift. Wir müssen sie Williams Familie schicken.«
»Gut. Ich kümmere mich darum«, sagte Ninabella. »Ich mache ein Päckchen und schicke sie mit der Post.« Ihre Stimme zitterte.
Am nächsten Tag kehrte Michelangelo mit einem Trupp junger Tagelöhner auf den Rossarco zurück, allesamt Kriegsheimkehrer wie er, die er auf der Piazza unter Dutzenden Arbeitssuchenden angeheuert hatte. Sie sollten die Bäume ausschneiden, das Terrain von Gestrüpp, Unkraut und Unterholz befreien, von den Rebstöcken retten, was noch zu retten war, die Casella gründlich säubern, die Saumpfade wieder begehbarmachen, Trockenmauern errichten, wo die Gefahr von Erdrutschen am
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