Der Hügel des Windes
Scifo ein großer Stein gehoben, der im strahlenden Sonnenlicht einen glitzernden Hohlraum offenbarte. Und auch die Augen der Arbeiter glänzten, als sie ganze hundertunddrei Goldmünzen hervorzogen und unter sich aufteilten. Doch dann plauderte einer. Und nun glänzten die Augen der Schüler, die begierig den Phasen der Sicherstellung von achtzig Münzen durch den Staat lauschten. Von den verbliebenen kaufte Armando Lucifero elf Stück auf und zwölf verschwanden, das heißt, sie wurden wie und wann auch immer gestohlen.
Den zweiten, eigenartigen Münzschatz fand ein Bauer auf dem Hügel des Rossarco. Das Ungewöhnliche daran war, fuhr die junge Archäologin fort, dass unter dem Häuflein von Silber- und Bronzemünzen, die auf das Jahr 400 vor Christus datierten und aus verschiedenen Gegenden der Magna Graecia stammten, unter anderem aus Kroton, sich auch Goldmünzen befanden. Es handelte sich um kostbare Solidi des Justinian, geprägt in Konstantinopel in den ersten Jahrzehnten des sechsten Jahrhunderts nach Christus, genau wie ein Teil des Fundes von Punta Scifo.
Das war das Rätsel, das Paolo Orsi lösen wollte, als er den Schatz erstand. Seine Hypothese lautete, dass der Hügel desRossarco nach der Zerstörung Krimisas von den Überlebenden und ihren Nachfahren mindestens weitere tausend Jahre lang bewohnt wurde, also mindestens bis zur Besatzung des Bruttiums – das die Byzantiner dann Kalabrien nennen sollten – durch den von Justinian geschickten General Belisar.
Bei Vortragsende brandete lebhafter Applaus auf, der noch anschwoll, als ein sehr großer und dünner älterer Herr mit magnetischem Blick aus strahlend blauen Augen aufs Podium gebeten wurde und den Hörsaal eroberte, noch bevor er ein Wort gesagt hatte. Er war der Star der Tagung, der Mann, von dem mein Vater so viel Gutes gehört hatte und den er nun endlich leibhaftig vor sich sah.
»Wir überlassen nun das Wort dem Anglo-Piemonteser Umberto Zanotti-Bianco, geboren 1889 auf Kreta, militanter Meridionalist, verdienstvoller Archäologe und Autor, langjähriger Patriot, heldenhafter Kämpfer im Großen Krieg, Gründer der ANIMI, des Nationalen Verbands für die Interessen des italienischen Südens, und der Società Magna Grecia, die sich so wirkungsvoll für Kalabrien eingesetzt hat, Präsident des Roten Kreuzes und Umweltschützer ...«
Umberto Zanotti-Bianco bremste den Moderator mit einer Handbewegung und einer ironischen Bemerkung, die das Publikum zum Lachen brachte: »Genug, genug, ich bitte Sie. Um all meine Ämter und Verdienste aufzuzählen, bräuchte es eine eigene Tagung, dabei bin ich noch gar nicht tot ...« Dann rekonstruierte er die Geschichte seiner Freundschaft mit Paolo Orsi, angefangen bei ihrer zufälligen Begegnung 1911 auf der Fähre nach Messina und entlang der verschiedenen Etappen ihrer gemeinsamen Arbeit »zum Wohle Kalabriens«.
Trotz des Altersunterschiedes hatten die beiden sich sofort prächtig verstanden. Ihr erklärtes Ziel war es, die fernste Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden und der Welt und den ahnungslosen Kalabriern selbst die Großartigkeit ihres Landstrichs zu offenbaren, der lediglich für seine Armut und Rückständigkeit der Bevölkerung sowie seine Mafia-Gewalt bekannt war.
Mein Vater war begeistert von dem, was er hörte. Solche aufrichtigen und zupackenden Leute brauchte der Süden, um wieder zu dem zu werden, was er einmal war, dachte er in diesem Moment.
Umberto Zanotti-Bianco redete wie gedruckt, wer weiß, wie oft er diese Worte schon gesagt und geschrieben hatte: »Paolo Orsi lehrte mich den Respekt vor den Kunstschöpfungen der Vergangenheit, die als stumme Zeugnisse den Geist der Zukunft erziehen, und er ermunterte mich, im Jahre 1920, in jener verzweifelten Nachkriegszeit, die Società Magna Grecia zu gründen. Unsere Absicht war es, die kläglichen finanziellen Mittel Orsis aufzubessern ...« Dann zählte er sämtliche Ausgrabungskampagnen auf, die sie finanziert hatten, darunter die für den Tempel des Apollon Alaios bei der Punta Alice und die auf dem Hügel des Rossarco.
Die Rede schloss mit einer persönlichen Reflexion, tiefgründig und ein wenig bitter, die mein Vater sich notierte, um sie nie mehr zu vergessen: »Es ist nun bald schon ein halbes Jahrhundert, dass ich die Länder des antiken Griechenlands kreuz und quer durchmesse. Und sosehr mich auch jedes künstlerische Zeugnis und die archäologische Forschung an sich begeistert haben, waren es doch vor allem die
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