Der Hügel des Windes
wurde, dass Marisa die Frau seines Lebens war und er das seit Monaten heimlich geahnt hatte, es aus Aberglaube aber nicht hatte zugeben wollen, als auch er sich endlich auszog und sie nicht mehr wie das größte Kunstwerk auf Erden betrachtete, sondern mit den Fingerkuppen, den Händen, dem ganzen Körperstreichelte, fühlte, wie sie vor Lust erbebte, da umfing er sie mit der ganzen Kraft und Sanftheit, derer er fähig war. Und er war der glücklichste Mann auf Erden.
Am Ende ließ Marisa die Wange auf Michelangelos Brust sinken und betrachtete zufrieden das Meer. Eine Weile schwiegen sie wie betäubt. Dann, anstatt zu kommentieren, was zwischen ihnen geschehen war, kam Marisa auf den Hügel zurück: »Himmel, wie schön es hier ist, es kommt mir vor, als sei ich schon immer hier gewesen. Das ist der faszinierendste und geheimnisvollste Winkel der ganzen Welt.«
»Ich liebe dich«, sagte er und küsste sie auf die Haare. Sie dufteten nach Rossarco. »Ich liebe dich«, wiederholte er.
Sie starrte auf das Purpurrot des Süßklees, der den gesamten Abhang des Piloru bedeckte. Sie schien taub zu sein, abwesend. Und wirklich erhielt er als einzige Antwort ein halbes, zerstreutes Lächeln.
Die ersten zwei Briefe kamen etwa einen Monat nach ihrer Abreise gen London an, einer für die Familie, der andere für Marisa. Ninabella beruhigte alle, dass es ihr gutgehe, dass sie die Reise nicht bereue, Williams Familie, schrieb sie, habe sie herzlich aufgenommen, sie hätten ein großes, luxuriöses Haus mit fließend Warmwasser, drei Bädern, elektrischem Licht und Telefon, besser hätte es nicht kommen können.
Wie versprochen, hatten sie sie an der besten Kunstakademie Londons eingeschrieben. Natürlich musste sie bei null anfangen, doch es war die Mühe wert. Marisa erzählte sie auch von David, der genauso freundlich und nett war wie William, ihr beständig, aber unaufdringlich den Hof machte und, na ja, er begann ihr zu gefallen, wenngleich sie ihn nicht liebte, daran hatte sie keinen Zweifel, noch nicht liebte.In beiden Briefen und auch in den nachfolgenden vergaß sie nie, den Vater zu erwähnen, »mein liebster Papa, der mir an manchen Tagen in der Menschenmenge zu folgen scheint, und wenn ich mich umdrehe, ist er nicht da und an seiner Stelle nur die Spur eines lebendigen Blickes, schon verschwunden im nächsten Moment.«
Von der Beziehung zwischen Marisa und Michelangelo erfuhren Sofia und Lina aus dem dritten Brief, in dem Ninabella dem jungen Paar ironisch viele männliche Nachkommen wünschte. Beide hielten die Nachricht für mehr als glaubwürdig und freuten sich kommentarlos.
Als Michelangelo den anderen den Brief vorlas, errötete er wie ein kleiner Junge. Marisa ließ sich nichts anmerken, als beträfe die Sache sie gar nicht.
Das war nicht etwa Oberflächlichkeit, wie mein Vater mir hundertmal zu ihrer Verteidigung sagte, vielmehr durchlebte sie alle Erfahrungen mit vollkommener Natürlichkeit, reinem Gewissen, ohne Ausflüchte und Täuschungen, mit absoluter Aufrichtigkeit. Die Kommentare der anderen interessierten sie nicht, sie tat, was sie für richtig hielt. Das genaue Gegenteil von Michelangelo, der nicht auf seine innere Stimme hörte, sondern dem Willen der Mutter und der Großmutter unterworfen war, hörig sogar dem Phantom des Vaters, der aus seiner Welt maßregelnde Botschaften schickte, vor allem nachts oder auf dem Rossarco.
»Du musst deinen eigenen Weg finden, du musst dich ändern, sonst leidest du unter jedem Unsinn, leidest durch die Schuld der anderen, die dich nicht verstehen wollen oder können«, riet ihm Marisa.
Er stimmte ihr zu: »Ich kann nicht endlos so weitermachen, du hast recht«, doch dann wiederholte er seinenGrundfehler: Bei jeder Entscheidung quälte er sich und wog alle möglichen Folgen seines Verhaltens ab, gute wie schlechte, ergab sich ganz dem Dorftratsch, den er nicht zu ignorieren vermochte.
»Liebst du mich?«, fragte er sie immer wieder.
»Natürlich, du bist wirklich ein Kohlkopf, wenn du das nicht kapierst«, erwiderte Marisa. Und bis zur Schließung der Abendschule empfing sie ihn jede Nacht in ihrem Bett, nackt und verliebt. Man musste wirklich dämlich wie der dickste Kohlkopf sein, wenn man die Liebe nicht an den Händen ablas, die ihn streichelten, an den Lippen, die ihn überall küssten, an dem Körper, der sich ihm mit lustvollster Erregung öffnete. Und Michelangelo, Kohlkopf aus Unsicherheit, ließ sich anstecken, liebte sie mit aller Kraft,
Weitere Kostenlose Bücher