Der Hügel des Windes
William, den sie nicht vergessen konnte, obwohl er seit fast zehn Jahren tot war, den Wunsch, nach England zu gehen, vielleicht nur, um der eigenen schmerzlichen Erinnerung zu entfliehen und Spillace hinter sich zu lassen, das sie einengte, sie zu ersticken drohte. Davids Einladung erschien ihr zu großzügig, um wahr zu sein, und doch gelang es ihr nicht, sie aus ihren Gedanken zu verbannen.
»Was würdest du an meiner Stelle tun?«, fragte sie Marisa. Und Marisa antwortete immer das Gleiche: »Ich würde gehen, ohne Zweifel. Hier lebst du nicht richtig, hier überlebst du nur, wie ein Baum in schönster Blüte zwar, aber nicht mehr lange.«
»Aber wie soll ich in einer fremden Stadt leben, wo ich niemanden kenne? Ich spreche kein Wort Englisch. Wie soll das gehen?«
»Wenn du willst, kann ich dir ein wenig Englisch beibringen. Und ansonsten braucht London dich nicht zu schrecken: Diese Stadt bietet so viele Anregungen, genau das, was du brauchst, um nicht zu verdorren. Du wirst sehen, wie leicht es ist, andere Menschen kennenzulernen und dich vielleicht noch einmal zu verlieben.«
Nacht für Nacht die gleichen eindringlichen, immer tiefer gehenden Gespräche, mit Einschüben einfacher, fast spielerischer Englischstunden. Bis Ninabella eines Morgens ihrer Familie verkündete, dass sie nach England gehen werde.
Sie wartete nicht auf die Zustimmung der Familie, die sie ihr nach ein paar Tränen und zumindest dem Versuch, siedavon abzubringen, wahrscheinlich gegeben hätten. Mutter und Großmutter bekamen kaum Gelegenheit zu einem ungläubigen »Was?«, als hätten sie sich verhört. Sie war mit sich im Reinen, zum ersten Mal seit den blutigen Ereignissen auf dem roten Hügel. Und entschlossen. Und sie wiederholte ohne den Schimmer eines Zweifels: »Ich gehe allein. Um ernsthaft das zu tun, was ich am liebsten auf der Welt tue: malen.«
30
»Los, hab keine Angst, steig auf.« Marisas Ton war liebenswürdig, aber bestimmt. »Ich fahr auch vorsichtig.«
»Wohin wollen wir?«, fragte Michelangelo verwirrt, während er sich hinter ihr zurechtsetzte und sie nur ganz leicht an der Taille berührte.
»Auf den Rossarco. In einer Viertelstunde sind wir da.«
Als die Vespa startete, erhob sich eine Staubwolke über der Piazza. Es war ein Vormittag Mitte Juni, Spillace ließ sich träge vom warmen Wind umspielen, auf dem Corso war niemand zu sehen außer Hunden und ein paar alten Frauen, deren ungläubige Schatten erschrocken vor dem Mofa der Torinèsia zurückzuckten.
Sie grüßte mit allseitigem Kopfnicken, wobei sie sich wie in einer ironischen Verbeugung gefährlich weit nach vorn lehnte, so dass ihr Körper sich Michelangelos sachtem Griff entwand und er sie kräftiger umfassen musste, wollte er nicht hinten herunterfallen. Dabei schienen seine Hände sie gar nicht so sehr zu packen, als ihr vielmehr raue, schüchterne Zärtlichkeiten zu erweisen. Dann drückte sich seine Brust an Marisas Rücken wie ein Saugnapf: Sie hatten den Weg ins Tal eingeschlagen.
Eine lange Strecke klebten sie in dieser unvermeidlichen Umarmung aneinander. Michelangelo spürte sein Herz immer schneller schlagen und hatte Angst, sie könne es merken.
In der Ebene angekommen, gab Marisa Gas, ihre Haare flatterten frei in alle Richtungen und umfingen Michelangelo in den Kurven wie ein duftendes Nest.
In der Einmündung zu dem steilen und steinigen Saumpfad, der auf den Hügel führte, drehten die Reifen durch, so dass Marisa den Motor abstellte und sagte: »Wir gehen zu Fuß weiter.«
Der Rossarco empfing sie mit seinen leuchtendsten Farben, darunter das hervorstechende Gelb des Ginsters, und der von ihm aufsteigende Wohlgeruch war so intensiv, dass beide die Augen schlossen, um ihn in vollen Zügen zu genießen.
»So stelle ich mir den Duft des Paradieses vor«, sagte Marisa. Michelangelo lächelte geschmeichelt, als hätte das Kompliment ihm gegolten.
Gleichzeitig öffneten sie die Augen und wurden überrascht von dem gegenseitigen Begehren, das in ihren Pupillen aufflackerte.
Am Anfang küssten sie sich, ohne sich zu umarmen, ihre Lippen klebten aufeinander, und langsam gingen sie in die Knie, bis sie schließlich übereinander lagen. Es war ein langer, langer Kuss, der bis in alle Ewigkeiten hätte dauern können, hätte sie nicht begonnen, sich auszuziehen. Und als er ihren weißen Körper auf dem roten Klee sah, als er ihre festen, ihm voller Leidenschaft entgegenstrebenden Brüste in den Händen fühlte, als ihm plötzlich klar
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