Der Hügel des Windes
hakte sich die Torinèsia bei Ninabella ein und lief neben ihr her, als seien sie alte Freundinnen.
Umberto Zanotti-Bianco war erschöpft, aber zufrieden. Kurz vor der Abreise machte er Michelangelo ein letztes Versprechen: »Sobald der Notstand vorbei ist, widmen wir uns eurem Hügel. Den Gedanken an Krimisa trage ich ständig in mir. In der Zwischenzeit versuche ich, Gelder für eine entscheidende Ausgrabungskampagne zu bekommen. Das habe ich auch Paolo Orsi versprochen. Es wird nicht leicht werden, aber wir schaffen das.«
Marisa bewies eine ungewöhnlich hohe Anpassungsfähigkeit. Obwohl sie aus einer wohlhabenden bürgerlichen Familie und zudem aus einer Großstadt im Norden stammte, klagte sie nie über das alte Haus der Arcuris, in dem es weder elektrisches Licht noch fließend Wasser noch Heizung gab. Im Gegenteil, wenn an den Wintertagen in der Küchedas Kaminfeuer prasselte, genoss sie sehr die heimelige Wärme, die von ihm ausging. Familie und Nachbarn kamen dann im Halbkreis davor zusammen und erzählten sich die Legenden der Vergangenheit und den Dorftratsch der Gegenwart. »Ich habe drei anstrengende Ausgrabungskampagnen in Griechenland hinter mir, wo ich über weite Strecken im Zelt genächtigt habe, im Vergleich dazu ist das Leben hier das reinste Vergnügen«, beruhigte sie die besorgten Arcuris.
Donna Lina freute sich sehr über Marisas Komplimente für ihre Speisen und ihre großzügige Gastfreundschaft und vergalt es ihr, indem sie überall ihre Verdienste als Frau und als Lehrerin lobte: Dank ihr hatte sie, Donna Lina, innerhalb weniger Monate an der Abendschule viel mehr gelernt als in allen drei Grundschuljahren zusammen.
Marisa war immer an der Arbeit, sie ackerte mit Kopf und Händen, wurde niemals müde. Tagsüber pflegte sie die Kontakte zur ANIMI, schrieb Briefe und Telegramme, füllte Anträge für Kriegs- oder Invalidenrenten aus, abends unterrichtete sie mit Sachkenntnis und Hingabe. In der übrigen Zeit half sie den Arcuris bei der Arbeit im Haus oder auch auf den Feldern, bei der Weinlese und der Olivenernte.
Mit dem Rossarco war es Liebe auf den ersten Blick. Marisa hatte ihn lange ergriffen betrachtet und dann verwundert gesagt: »Unglaublich, es kommt mir vor, als würde ich diesen Ort kennen. Als sei ich schon einmal hier gewesen. Aber wann? Mit wem?«
Sonntags nahm sie sich dann die Zeit, die archäologischen Ausgrabungsstätten in der Umgebung von Crotone zu besuchen – darunter die Überreste der Tempel für Apollon Alaios an der Punta Alice und für Hera Lacinia am CapoColonna –, allein, mit einem Notizheft, in das sie ihre Beobachtungen schrieb.
Im Frühling kaufte sie in Crotone eine gebrauchte Vespa, die sie »mein Eselchen« nannte und mit der sie die Wege über die damals sehr schlechten Straßen schneller bewältigen konnte. Auf dem Mofa trug sie Hosen, die ihre langen Beine betonten, und eine große Brille gegen den Staub.
Die Frauen, vor allem die in ihrem Alter, kreideten ihr das nicht an, wie sie es bei jeder anderen aus dem Dorf getan hätten, die es wagte, Motorrad zu fahren oder auch nur Hosen zu tragen, sondern sprachen im Gegenteil mit aufrichtiger Bewunderung von ihr. Die Torinèsia bewegte sich in einem allgemeinen Dunstkreis aus Wohlwollen und Wertschätzung. Der einzige Tratsch, sie sei Michelangelos Geliebte oder gar seine heimliche Verlobte, war zu billig, um Schaden anzurichten.
In Wirklichkeit schätzte Michelangelo sie als qualifizierte Kollegin, eine Art Ziehtochter Umberto Zanotti-Biancos, dessen Optimismus sie geerbt hatte, die wie er immer zwischen Denken und Handeln hin- und hersprang, immer in Bewegung, niemals träge oder müde, mit dem frischen Lächeln ihrer ersten Begegnung. Gewiss, wenn die Grundlage einer tiefen Liebe Respekt ist, könnte man sagen, dass Michelangelo sich unbewusst in Marisa verliebte. Doch ehe sie sich darüber klar wurden, bis zum ungläubigen Blick und dem darauf folgenden Kuss, aus dem eine lebenslange Liebe werden sollte, mussten sie bis Anfang Juni warten.
Bis dahin konzentrierte sich Marisas ganze Zuneigung auf Ninabella, mit der sie Zimmer und Geheimnisse teilte. Wenn sie im Dunkeln nebeneinander auf ihren Betten lagen, sprachen die zwei jungen Frauen bis tief in die Nacht hinein.
Eine von Marisas Stärken war ihre Fähigkeit zuzuhören. Und so erzählte Ninabella von ihrem Vater, von seinem mysteriösen Verschwinden und der Hoffnung, ihn eines Tages lebend wiederzusehen. Sie gestand ihre Liebe zu
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