Der Hügel des Windes
die fehlenden Teile der Rüstung noch auf neue Fundevon Bedeutung. »Vielleicht hat man sie zu anderen Zeiten verschwinden lassen«, sagte meine Mutter, die trotzdem mit dem Ergebnis zufrieden war: »Der fein gearbeitete bronzene Brustpanzer und der kleine Silberbogen mit den Pfeilen sind allein schon die gesamte Ausgrabungskampagne wert. Sie gehörten sicherlich zu den Grabbeigaben einer bedeutenden Persönlichkeit des antiken Krimisa.«
»Könnte es Philoktetes selbst gewesen sein?«, fragte ich naiv und hoffnungsvoll.
»Ich glaube nicht, auch wenn das eine faszinierende Vorstellung ist. Doch in einer Sache habe ich keine Zweifel: In diesem Hügel pulsiert die geheimnisvolle Seele Krimisas.«
35
Bis zum nächsten Frühjahr hatte ich keine Gelegenheit, auf den Rossarco zu gehen. Als ich am Ostermontag dorthin zurückkehrte, sah ich, dass mein Vater auf dem Piloru frische Setzlinge gepflanzt hatte – Walnuss, Birne, Feige, Nektarine, Kirsch-, Maulbeer- und viele Granatapfelbäume, dazu einige Rebstöcke des Hahnensacks – und so dem Willen Urgroßvater Albertos und seiner alten Freunde nachgekommen war.
Auf der Fläche hinter den dornigen Ginsterbüschen, die in gelber Blüte standen, waren die ersten Rohbauten des Touristenparks entstanden, doch man sah keine weiteren Baustellen und keine Menschenseele, nur ein paar rostfarbene Staubwölkchen, die der Wind aufwirbelte.
Ich dachte an den Sommer der Ausgrabungen zurück, schob alle Wut und Langeweile beiseite und durchlebte noch einmal die aufregenden Momente der Entdeckungen. Vor meinem inneren Auge stand leuchtend das frische Lächeln meiner Mutter, und ich sehnte mich nach ihr. Wenige Tage zuvor hatte sie mir eine Postkarte aus Zypern geschickt, auf der sie mir frohe Ostern wünschte; ich hatte ihr mit einer Liebeserklärung geantwortet, auf der Rückseite einer Ansichtskarte von Spillace vor dem Meer und dem roten Hügel. So ging es mir immer, ich war nicht wütend auf sie, auf ihr Fernsein. Vielleicht aus einem Selbsterhaltungstrieb heraus ließ ich nur die schönen Bilder an mich heran und rahmte sie mir ein, um sie nicht zu vergessen.
Zum Fest des heiligen Antonius im Juni reiste Ninabella aus England an. Es war das letzte Mal, dass wir sie zusammen mit Onkel David sahen. Sie blieben zwei Wochen im Dorf und machten keinerlei Hehl daraus, dass zwischen ihnen kein Funken Liebe mehr glomm, sollte es sie jemals gegeben haben. Nur mein Vater und Mammalì wollten sie immer noch zusammen sehen, eine Familie wie viele mit den normalen Eheproblemen. Mit einem oder mehreren Kindern wären sie das perfekte Paar, meinte mein Vater. Sie waren natürlich nicht mehr die Allerjüngsten, sagte Mammalì, doch eine Frau konnte gut und gerne bis vierzig ein gesundes und rettendes Kind in die Welt setzen, wenn es dem heiligen Antonius gefiel.
Ninabella musste lachen, doch sie sagte nichts. Sie verließ das Haus und spazierte durchs Dorf oder besuchte ihre Freundinnen von früher, während Onkel David sich mit meinem Vater in die Küche oder in eine Bar verkroch und sich dort exorbitante Mengen an Essen, Wein und Bier einverleibte, um sich abzulenken und fröhlich zu erscheinen.
Vom nächsten August an kam Ninabella nur noch allein nach Spillace, und wurde sie gefragt, warum denn ihr Mann nicht dabei sei, sagte sie unschuldig: »Wir haben uns getrennt. Es tut mir leid für ihn und meine Familie, aber wir hatten uns nichts mehr zu sagen.«
Inzwischen wurden die Bäumchen am Piloru von Frühjahr zu Frühjahr größer, und mein Vater konnte erste Früchte nach Hause tragen. Ich übernahm es gerne, sie für Mammasofì zu pürieren, mit einem hervorragenden Qualitätsmixer, den Ninabella uns aus London mitgebracht hatte. Niemand im ganzen Dorf besaß so ein nützliches Gerät, nicht einmal die zwei Bars.
Mit der ersten Hitze hatte Mammasofì sich kraftlos ins Bett gelegt, die Beine von den Füßen bis zu den Knien geschwollen, und aß nur noch, wenn wir sie fütterten. Ich hatte sie noch nie krank gesehen, im Gegenteil, sie war es immer gewesen, die sämtliche Leiden der Familie mit einem Absud oder Gebräu aus Kräutern linderte, die sie im Wald von Tripepi sammelte. Bis zu diesem Frühjahr war sie ohne jede Hilfe gelaufen. Dann der Zusammenbruch, der trotz ihres beachtlichen Alters von fünfundneunzig Jahren das ganze Dorf überrascht hatte. Ich sagte zu ihr: »Mammasofì, halte durch, wir wollen dir doch einen Kuchen mit hundert Kerzen backen«, und sie erwiderte unter
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