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Der Hügel des Windes

Der Hügel des Windes

Titel: Der Hügel des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmine Abate
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gleichen Dinge wiederholte: »Hast du schon gegessen, mein Schatz? Die Torinèsia-Omakocht nicht so lecker wie ich, stimmt’s? Dann iss und trink und denk an uns, versprichst du das deiner Mammalì, die dich von Herzen liebt? Hast du eine hübsche und gescheite Braut? Eins sag ich dir, sie darf ruhig Torinèsia sein, wie màmmata , aber über Familie muss sie denken wie wir, versprochen?«
    Wie konnte ich ihr böse sein? Ich antwortete ihr: »Ja, ja«, und lächelte.
    Mit der Zeit gewöhnte ich mich an das neue Leben in der Stadt, und ich kann mich nicht erinnern, dass mir das Dorf, der Rossarco oder meine Eltern gefehlt hätten, wohl aber, dass ich ihnen gegenüber einen grollenden Unwillen hegte: Für mich waren sie schuldig, mich zu Unrecht aus dem Haus gejagt zu haben. Wenn ich damals begriffen hätte, dass ich in Spillace in der Gefahr schwebte, ebenso zu verschwinden wie Nonno Arturo, hätte ich meine Verbannung wahrscheinlich, ohne mit der Wimper zu zucken, hingenommen.
    Als ich schließlich erfuhr, dass sie mich nach Turin geschickt hatten, um mich vor der Bedrohung durch diese »verfluchten Feiglinge« zu schützen, wie mein Vater sie weiterhin nannte, war es zu spät: Die Nabelschnur zur Welt von früher war, durch die Zeit und die Distanz, unwiederbringlich gekappt.
    Im Ganzen dauerte mein goldenes Exil ungefähr drei Schuljahre. Dann wurden die »verfluchten Feiglinge« eingesperrt oder verschwanden aus dem Blickfeld, das Unternehmen ging bankrott, die Investoren verloren ihr Geld, und die Ferienanlage wurde eine hässliche Narbe unterhalb des Piloru. Die Appartements ohne Türen und Fenster wurden im Sommer von durchziehenden Zigeunerfamilien genutzt, währendin späteren Jahren Gruppen von illegalen Einwanderern hier ihren Unterschlupf fanden.
    Eines Tages teilte mein Vater mir mit, dass ich nun ins Dorf zurückkehren könne. »Dann bringe ich dir Gitarre spielen bei«, sagte er, um mir die Rückkehr schmackhaft zu machen. Doch mittlerweile hatte ich in Turin das naturwissenschaftliche Gymnasium begonnen und fühlte mich wohl, daher beschloss ich, bis zum Abitur zu bleiben, zur Freude meiner Großeltern mütterlicherseits und meiner Mutter. Der Groll auf meine Heimat verwandelte sich in scheinbare Gleichgültigkeit, und ich verspürte immer noch keinerlei Sehnsucht nach dem Dorf, dem Rossarco, meinen Eltern und Mammalì. Den Grund sollte ich erst begreifen, als ich mir mit Hilfe meines Vaters die ersten Wahrheiten dieser Geschichte zusammensetzte: Ich sehnte mich nach nichts, weil ich unterbewusst alles in meinem Innersten bewahrte.

Wahrheiten
    Die Wahrheit ist, dass Orte absolute Treue fordern, ähnlich wie eifersüchtige Liebhaber: Wenn du sie verlässt, tauchen sie früher oder später wieder auf, um dich mit der geheimen Geschichte zurückzuholen, die dich an sie bindet; wenn du sie verrätst, übergeben sie die Geschichte dem Wind, in dem sicheren Wissen, dass sie dich überall erreichen wird, selbst am Ende der Welt. Das begriff ich, als mein Vater mich in seiner kurz angebundenen Art daran erinnerte, dass der Rossarco meine Anwesenheit verlangte.
    Er rief mich auf dem Handy an, das ich ihm vor Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Bis dahin hatte er sich erst ein Mal damit gemeldet: »Komm schnell, deine Mutter liegt im Sterben!« Genau so, trocken, ohne jedes Anzeichen von Leid. Ich war sofort ins Auto gesprungen und hatte die ganze lange Reise über gehofft, mein Vater habe übertrieben. Mama war schon vor einigen Jahren erkrankt, hatte sich aber in letzter Zeit wieder erholt. Als ich ankam, war das Haus voller Leute, die weinten und respektvoll vor mir zurückwichen, düster und fahlgesichtig stand er am Fenster und rauchte zitternd, meine Mutter lag noch auf dem Bett, sie war vor wenigen Stunden verstorben.
    Dieses Mal sagte er zu mir: »Du musst kommen, unser Hügel rutscht ab.« Ich hörte deutlich den Regen und den Wind, die ihm ins Gesicht peitschten, und ich stellte mir seinen wütenden und weidwunden Blick vor, das Handy in der Faustumklammert wie einen Stein, den man gen Himmel wirft. Er stand auf dem Rossarco, allein im prasselnden Regen. Er wiederholte: »Komm sofort.« Als sei ich in Spillace und nicht 1195 Kilometer weit weg. Ich wusste nicht, ob das ein Befehl war oder eine Bitte um Hilfe. Und ich wusste nicht, was ich letztlich tun würde. Und doch antwortete ich ihm schweren Herzens und wenig überzeugt: »Ich fahre heute Abend los. Ich muss noch packen und mich ein paar

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