Der Hügel des Windes
lautem Schnaufen, das mehr nach Schmerzensseufzern klang: »Mir geht’s gar nicht gut, Schätzchen, ich habe zu lange gelebt, nun hat es keinen Sinn mehr, sich dem Herrgott zu widersetzen, der mich ruft. Das ganze Leben tut mir weh, von Kopf bis Fuß.«
Sie wollte nicht mehr leben, das verstand auch ich. Tatsächlich entschlief sie friedlich wie ihr Mann Alberto in der Nacht vor dem Festtag des heiligen Antonius, als hätte sie noch Ninabellas Ankunft aus London abwarten wollen.
Am Vorabend, ehe sie vom Priester die Letzte Ölung bekam, hatte sie darum gebeten, mit ihren zwei Enkeln allein zu reden. Nach einer Stunde oder mehr waren sie aus ihrem Zimmer gekommen. Mein Vater war blass und verstört, Ninabella schweigsam und düster. Mammalì bebte vor Neugier: »Was musste sie euch denn so Schreckliches mitteilen?«
»Ihre Wahrheit«, erwiderte mein Vater. Und Ninabella ergänzte mit Tränen in den Augen: »Außerdem hat sie etwas gesagt, das auch für dich gilt: Sucht nicht länger meinen Sohn Arturino, grämt euch nicht länger. Er lebt an einemOrt, der noch schöner ist als unser Hügel. Er ist da, wo ich nun hingehe. Wir werden immer bei euch sein, meine Schätzchen. Solange ihr euch an uns erinnert.«
Zwei Wochen nach der Beerdigung ging ich mit meinem Vater und Mammalì über den Corso, sie trug drei Sträuße rote Nelken im Arm und antwortete jedem, der fragte, wohin wir gingen: »Die Schwiegereltern und meine Mutter besuchen, auf dem Gottesacker.« Ninabella war wieder nach England zurückgekehrt, und sie fehlte mir schon jetzt, so wie mir meine Mutter fehlte und vor allem Mammasofì, die weder zu Ferragosto noch im Herbst noch jemals wiederkommen würde.
Es war ein Vormittag Ende Juni, die drückende Hitze umschlang uns in einer glühenden Umarmung und spiegelte sich flimmernd auf der Straße vor uns. Ich sah als Erster das Bündel, das auf dem Asphalt zappelte. Ich lief schneller, doch es kam mir vor, als bewegte ich mich wie in Zeitlupe, wie im Traum. Es war ein kleiner weißer Vogel, der nicht mehr auffliegen konnte. Er hatte einen gegabelten Schwanz, einen gekrümmten Schnabel und Augen, die wie zwei staubige Regentropfen aussahen. Ich sagte zu meinem Vater: »So einen Vogel habe ich noch nie gesehen, was ist das?«
Er war noch erstaunter als ich, nahm ihn vorsichtig in die Hände und sagte: »Das ist eine Albino-Schwalbe. Sehr selten, besser gesagt, nicht nur selten, sondern fast einzigartig. Es ist das erste Mal im meinem Leben, dass ich eine sehe. Die da oben haben sie vom Himmel geworfen.« Und er zeigte auf einen Schwarm schwarzer Schwalben, die wütend über unseren Köpfen flatterten.
»Warum?«, fragte ich.
»Weil sie anders ist als die anderen, siehst du, wie weiß sie ist?«
»Weil sie zu schön ist, wie ein Paradiesvogel, und die anderen sind scheelsüchtig. Neid ist eine böse Krankheit, hat mein Arturo immer gesagt«, mischte sich Mammalì ein und fuhr mit dem Finger durch den weißen Flaum der Schwalbe. Dann fügte sie hinzu, dass ihr Schwiegervater Alberto solch einen Vogel gesehen habe, während er mit Professor Paolo Orsi auf dem Rossarco sprach.
Wir gingen weiter durch die Hitze, nebeneinander. Die Albino-Schwalbe starrte mich aus ihren staubgrauen Augentropfen neugierig an. Was wollte sie von mir? Sie war überhaupt nicht verängstigt, im Gegenteil, sie schien uns zu kennen und betrachtete uns mit ihrem stolzen Raubvogelblick. Ich lächelte ihr zu und dachte an meine Mutter, ich würde ihr von dieser merkwürdigen Begegnung erzählen. Sie, die an so vielen Orten der Welt gewesen war, hatte sicherlich niemals eine solche Kreatur gesehen.
»Woran denkst du?«, fragte mein Vater, als er mich so versunken sah.
»An Mama«, erwiderte ich aufrichtig.
»Söhnchen, recht hast du. Aber vergiss nicht, dass auch unser Haus ein Nest weißer Schwalben ist. Stimmt’s oder stimmt’s nicht?«, meinte Mammalì. Und ich war überrascht von diesem Vergleich, der mir, um ehrlich zu sein, nie in den Sinn gekommen wäre, doch ich sagte nichts.
Mein Vater wiederum nickte und streichelte erneut die Albino-Schwalbe, als streichele er einen unserer Lieben, vor allem Nonno Arturo.
Kaum erblickte sie die Friedhofsmauer, begann Mammalì zu weinen und Lobes- und Liebeshymnen auf ihren tüchtigenSchwiegervater Alberto und die beste aller Schwiegermütter zu singen, immer waren sie einer Meinung gewesen, sagte sie, nie eine Unstimmigkeit, nie ein Streit, nie ein harscher Befehl, und wenn sie
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