Der Hühnerführer: Roman (German Edition)
Blattes, wendet es, reicht es Alexander.
Alexander nimmt die Zeitung.
Liest den Artikel.
Hat den ganzen Tag nichts gegessen.
Würgt bittere Galle.
***
... Unfalltod, tragischer, Mutter und ihre Zwillinge. Bahnübergang. Unachtsamkeit. Tragisch. Vater vor Jahren verschwunden. Möglicherweise Opfer eines Verbrechens ...
***
„Sie kommen hier nicht raus. Und selbst wenn, gibt es nichts, wohin sie zurückkehren können. Es gibt kein anderes zu Hause. Es gibt keine Familie. Keine Frau, keine Kinder. Hier ist Ihr zu Hause. Hier ist ihre Familie. Erzählen Sie uns, was wir wissen müssen. Helfen Sie uns. Helfen Sie Ihrer Familie.“
Alexander wippt in seinem Sessel vor und zurück. Zusammengekrümmt, die Arme um die Leibesmitte geschlungen. Die Krämpfe wollen nicht aufhören. „Ich weiß nichts.“ Er schluchzt trocken auf. „Ich weiß doch nichts.“
***
Die Zigarettenschachtel beult die Brusttasche seines Häftlingshemdes deutlich sichtbar aus. Hofpause. Er geht vom Verhörzimmer direkt in den Innenhof. Er stellt sich genau in die Mitte. Jeder kann ihn sehen. Einer der Anderen stellt seinen Spaziergang ein, dann noch einer. Die Gespräche verstummen. Es dauert ein wenig, aber nicht lange. Er ist gut einen Kopf größer und gut dreißig Kilo schwerer als Alexander.
„ Sind das Zigaretten?“ Er deutet auf die Brusttasche.
Alexander nickt. „Neunzehn. Fast ein ganzes Päckchen.“
Der Riese streckt die Hand aus.
Er blickt hoch, dem Riesen direkt in die Augen. „Du willst handeln? Was hast Du?“
Der Riese lächelt und holt aus. Alexander gibt einen Laut von sich, von dem er nicht gewusst hat, dass er in ihm steckt.
***
Die Sanitäter, die in ihrer Zeit schon einiges gesehen haben, versuchen den Häftling, der bäuchlings in der Mitte des ansonsten menschenleeren Hofes in einer Blutlache liegt, auf den Rücken zu drehen. Als sie sein Gesicht sehen, springen sie unwillkürlich zurück, die Leiche rollt in ihre ursprüngliche Position zurück..
„ Um Gottes Willen“, flüstert einer der beiden. „Was ...?“
„ Zerfleischt.“ Die Sanitäter fahren herum. Eine der Hofwachen steht plötzlich hinter ihnen. „Mit den Zähnen.“ Der Gefängniswärter schüttelt den Kopf.
„ Aber das ganze Gesicht ...? Der Sanitäter fühlt den Puls des Häftlings. Nichts. Gott sei Dank.
„ Ja. Ungewöhnlich.“
„ Aber weswegen diese … Tat?“
„ Zigaretten.“
„ Zigaretten?“
„ Fast ein ganzes Päckchen.“
„ Niemand tut so etwas wegen Zigaretten.“
„ Nicht?“
Wie wir waren
Nein, mit diesem Jahrzehnt konnte ich schlicht und einfach nichts anfangen, auch meine Söhne verstand ich von Tag zu Tag weniger. Meine Frau hatte ich ohnehin nie verstanden. Mein eigenes Zuhause war zu einem mir fremden Ort geworden. Also konzentrierte ich mich immer stärker auf meine Karriere. In beiden Systemen. In dem, für das ich offiziell tätig war, beförderten sie mich. Darauf war ich, obwohl ich mir der eigenen Verlogenheit bewusst war, stolz. Meine Frau war es auch. Meine Söhne machten sich darüber lustig. Sie hatten natürlich recht. Sie wussten nur nicht warum. Ich wünschte, ich hätte es ihnen erklärt. Viel mehr erklärt. Und weniger über ihre Haare geschimpft.
1987 -1989
Er ist gestorben, sie ist geboren.
Sie träumt nicht.
Keine Dreifaltigkeit.
Sie erinnert sich nicht an sie.
Die Dreifaltigkeit gehört einem anderen, einem Wesens das verendet ist.
Unbemerkt von allen anderen.
Die Hülle, die zurückgeblieben ist, nennen sie immer noch Alexander.
Sie irren sich.
***
Auch die Hülle träumt von Dingen, die geschehen sind. Sie träumt von den Dingen, die sich seit ihrer Geburt ereignet haben. In ihre Träume schleichen sich manchmal trotzdem Erinnerungen an die Zeit davor ein.
Schatten des Erlebten.
Jeder einzelne schmerzt.
***
Die Blutlache, in der sie mit ihrem Gesicht liegt, ist groß. Viel zu groß für die Wunde, von der sie weiß, dass sie an ihrem Hinterkopf klafft. Viel zu viel Blut. Sie richtet sich auf. Die Leiche des Grenzbeamten verfügt nur noch über einen halben Schädel. Mehr Blut sickert aus dem offenen Kopf des Toten. Sie tastet nach ihrer eigenen Wunde. Statt ihrer Finger berührt etwas Metallisches ihren Kopf. Sie senkt ihren Arm, sieht
Weitere Kostenlose Bücher