Der Hühnerführer: Roman (German Edition)
verwundert auf ihre Hand. Nichts.
Sie wacht auf.
***
Der Hülle geht es mit jedem Tag besser.
Anderen, denen sie Nahrung und Zigaretten abnimmt, geht es schlechter.
Die anderen sind nicht die Anderen, auch nicht die Alten.
Die anderen sind alle.
Es gibt keinen Unterschied, alles ist gleich, alle sind gleich.
Auch die Zeit ist eins.
***
Die Hülle sitzt in der Kantine. Alleine an einem Tisch in der hintersten Ecke. Ein Neuer erkundigt sich bei einem Mithäftling nach ihr.
„ Kriminal oder Politik?“
„ Wer?“
Der Neue deutet in die Richtung der Hülle. „Der alte Mann dort drüben.“
„ Wahrscheinlich Kriminal.“
„ Aha.“
Er klopft mit dem Zeigefinger auf den Kopf. „Und verrückt. Pass auf.“
Der Neue nickt. „In Ordnung.“
***
Auch in der Zelle ist sie jetzt alleine.
Der Gewaltverbrecher, der sie zuvor mit ihr geteilt hat, hat sich mehrfach beschwert. Sein Mitgefangener nehme ihm jede Woche seine gesamte Zigarettenration ab und, wenn er übrig gebliebene Nahrung für den späteren Verzehr in die Zelle mitnehme, auch diese.
Die Wächter ignorieren die Beschwerden so lange, bis die Hülle ihrem Zellengenossen den halben Mittelfinger abbeißt.
Der Gefangene, so heißt es im einschlägigen Protokoll, habe das Begehr, dass dieser einmal mehr seine Zigaretten abgeben solle, mit dem Ausstrecken des zentralen Fingers quittiert, was zu besagter Beißattacke geführt habe.
Die Wachen verlegen den Häftling.
***
Der Verhörspezialist blickt von seinen Akten auf.
„ Wir können Sie nicht rauslassen, das wissen Sie. Wegen des Mordes.“
Die Hülle starrt auf die Zigarette, die zwischen ihren Fingern glimmt. Eine Packung liegt in der Mitte des Tisches, zwischen ihr und dem Spezialisten.
„ Aber wir können Ihr Leben hier angenehmer gestalten.“
Die Hülle steckt die Zigarette in den Mund. Greift sich das Päckchen. Steht wortlos auf. Nähert sich bis auf eine Armlänge der Tür des Verhörzimmers.
Bleibt stehen.
Wortlos.
Regungslos.
Der Offizier klappt die Akte zu.
„ Ich werde nicht wiederkommen.“
Wortlos.
„ Das ist Ihre letzte Chance. Sagen Sie mir, wen Sie treffen sollten.“
Regungslos.
Der Verhörspezialist nimmt das Feuerzeug, zündet die untere Ecke der Akte an, wartet bis die Flammen genug Zerstörungskraft entwickelt haben, lässt die brennenden Dokumenten in den metallenen Mistkübel neben seinem Stuhl fallen.
„ Wenn diese Akte verbrannt ist, sind sie ausgelöscht.“
Wortlos.
„ Verstehen Sie mich? Dann ist es aus. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Sie existieren. Niemand kann Sie mehr finden.“
Regungslos.
***
Manchmal liegt Schnee im Hof.
Manchmal feuchter Dreck.
Manchmal trockener Staub.
Je nach Jahreszeit.
Fragte die Hülle jemand, wie oft sich die Beschaffenheit des Bodens geändert hätte, sie wüsste es nicht.
***
Etwas ist anders. Es fällt sogar der Hülle auf.
Unruhe in der Luft.
Der Boden ist staubig.
Die Wachen tuscheln.
Die Gefangenen tuscheln. Die Alten und die Anderen vergessen, dass sie Feinde sind, tuscheln untereinander
Aufregung.
Die Hülle nimmt diese Informationen auf, sieht aber keinen Sinn darin, sie zu verarbeiten.
Es wird sich legen.
Eine Anomalie der Gleichheit.
Sie wird vergehen.
***
Keine Hofzeit. Nicht Frühstücks-, nicht Mittags- nicht Abendbrotzeit.
Trotzdem öffnet sich ihre Türe.
Im Konzert eines ohrenbetäubenden, metallischen Gekreisches, wie es sonst nur zur Hofzeit, zum Frühstück, zum Mittag- und Abendbrot zu hören ist.
Wenn alle Zellentüren gleichzeitig aufgleiten.
Überraschtes Gemurmel.
Die Wachen gehen in kleinen Gruppen, zu dritt oder viert, automatische Waffen im Anschlag durch die Gänge. Sie rufen etwas. Immer dasselbe. Geraune aus den Zellen. Fragen. Die Wachen antworten, rufen immer die selben zwei Silben „Anno!“ Ja!
Erste Rufe. Gefangene treten auf die Gänge hinaus. Vorsichtig. Bleiben vor ihren geöffneten Zellen stehen. Blicken unsicher nach links. Nach rechts. Reflexe aus einem vergessen geglaubten Straßenverkehr. Sehen ihre Mithäftlinge. Die ersten bewegen sich. In die Richtung, aus der sie vor all den Jahren zum allerersten Mal gekommen
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