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Der Hühnerführer: Roman (German Edition)

Der Hühnerführer: Roman (German Edition)

Titel: Der Hühnerführer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Weitmayr
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sind. Zuerst gehen sie. Dann die Sorge, es könnte sich um ein Missverständnis handeln, das sich jeden Moment zu ihren Ungunsten aufklärt. Der Gedanke daran veranlasst die ersten dazu, in einen leichten Trab zu verfallen. Dann laufen sie. Sie überholen einander, rangeln sich an den vor ihnen Gehenden vorbei. Diese beginnen ebenfalls zu laufen. Die ersten wütenden Rufe. Das eine oder andere Handgemenge. Der erste fällt, ein zweiter stürzt über ihn, ein dritter taumelt, kann sich aber fangen, der zweite rappelt sich hoch, es gelingt, der erste wird beim selben Versuch gerempelt, er fällt wieder, ein vierter versucht im Lauf über sein menschliches Hindernis zu springen, er landet mit dem rechten Fuß auf dem Rücken des ersten, der bleibt liegen, er wird es nicht wieder versuchen, er wird nicht wieder aufstehen.  
    Die Hülle sitzt auf ihrer Pritsche.  
    Sie starrt an die Wand.  
    Regungslos.  
    Wortlos.
     
     
    ***
     
     
    Zeit vergeht.   
    Die Hülle spürt das an dem Hunger, der von ihr Besitz ergreift.   
    Obwohl kein entsprechendes Signal ertönt, verlässt sie ihre Zelle, findet den Weg zur Kantine. Auch ohne leitenden Menschenstrom. Die Schritte hallen unnatürlich laut von den Wänden zurück. Das droht, eine Erinnerung zu wecken. Ein Gebäude in einer anderen Stadt. Vor Jahren. Jahrzehnten? Erinnerungen stellen für ihre Existenz eine Gefahr dar. Was vorher an ihrer Stelle war, könnte wieder hervorbrechen und sie verdrängen. Sie schließt das Geräusch aus. Eisige Stille erwartet sie, als sie den Speisesaal betritt. Alles ist, so weit sie das in dem fahlen Licht beurteilen kann, aufgeräumt, blank. Sie betritt die Küche, findet bereits leicht vertrocknetes Gemüse. In den Kühltruhen liegen Fleischstücke. Sie nimmt einige an sich, trägt die Nahrung zurück in die Zelle, verzehrt, was sie kann, den Rest versteckt sie unter der Pritsche.  
     
     
    ***
     
     
    Was an Lebensmitteln da ist, beginnt zu verwesen. Sie isst trotzdem. Ohne Bedenken. Sie würgt nicht, als sie die übel riechenden Fleischfetzen in ihren Mund schiebt. Sie würgt auch nicht, als sie schluckt. 
    Leben, so ein naturwissenschaftliches Dogma, definiert sich über den Stoffwechselvorgang. Er ist der kleinste gemeinsame Nenner. So lange dieser funktioniert, ist alles gut. Der Körper scheidet alles aus, was in diesen Vorgang nicht hineinpasst. Dass die Hülle das Fleisch nach mehreren Stunden erbricht, ist also ein gutes Zeichen, auch wenn sie es, wäre sie zu einem solchen Gedanken fähig, kaum glauben würde. Es bedeutet, dass sie auf dem grundlegendsten aller Niveaus funktioniert.   
    Die letzte Barriere hält.

1989
     
     
    Der Mann in Uniform blickte nervös über seine Schultern. Von irgendwo her, weit außerhalb des Kegels, den die Taschenlampe für ihn ausleuchtete, hatte er ein Geräusch gehört. Vielleicht ein Stück Verputz, das sich aus der Wand gelöst hatte. Womöglich aber auch ein Kieselstein, von einem unachtsamen Fuß getroffen und in der Folge gegen eine Wand geprallt.  
    „ Haben Sie das gehört?“ 
    Sein Begleiter ging weiter, blickte unverdrossen geradeaus. „Was?“  
    „ Was? Das Geräusch natürlich!“ 
    Der Angesprochene blieb stehen, horchte kurz ins Dunkel. Sein Rücken, das konnte man im Taschenlampenlicht erkennen, war leicht gekrümmt, das Haar wirkte im Gegenlicht noch dünner, als es das bei Tageslicht getan hatte.   
    „ Da ist nichts. Weiter.“  
    Der Soldat war darum bemüht, mit seinem Auftraggeber Schritt zu halten. „So etwas Idiotisches“, schimpfte er dabei vor sich hin. „In absoluter Dunkelheit in ein aufgegebenes Gefängnis. Wenn man so etwas in einem Film sieht, schaltet man ihn weg, weil einem diese Dummheit auf die Nerven geht, aber wir Idioten ...“  
    „ Halten Sie den Mund.“ 
    Sie gingen schweigend weiter. Die Enge des Universums, die Dunkelheit, die ihn umgab, ließ den Soldaten in Vertigo fallen, er verlor die Fähigkeit, zwischen oben und unten zu unterscheiden. Hastig streckte er seinen Arm aus. So weit bis er die Mauer spürte. Sein Halt in der Dunkelheit.  
    Er lief in den Rücken des anderen Mannes.  
    „ Entschuldigen Sie,“ stammelte er, „aber Sie sind so abrupt...“ 
    „ Halten Sie den Mund.“ 
    Er hörte, wie der Zivilist scharf Luft einsog.  
    „ Riechen Sie das?“ 
    Er reckte instinktiv die Nase in die Höhe. „Nein, nichts. Was …?“  
    „ Übel. Es riecht übel.“ 
    „ Übel“, fragte der Soldat.

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