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Der Hühnerführer: Roman (German Edition)

Der Hühnerführer: Roman (German Edition)

Titel: Der Hühnerführer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Weitmayr
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lange auf diesen Körper gestarrt, ihm beruhigend zugeredet, versichert, dass sich alles fügen würde, um Alexander jetzt noch fallen zu lassen.   
    Die Ärzte hatten gemeint, viel mehr sei nicht möglich. Alexander befände sich in einem Zustand, der einem Wachkoma sehr ähnlich sei. Zu nahe sei er dem Tod gekommen, zu sehr habe sich der Körper darauf konzentrieren müssen zu überleben, zu viele nicht lebensnotwendige Sektoren seien „heruntergefahren“ worden, wie ihm ein Mann in weiß erklärt hatte.   
    „ Heruntergefahren“.  
    Was auch immer das bedeuten sollte.   
    Das Vegetative habe die Vorherrschaft über das Bewusste übernommen. Und das würde wahrscheinlich auch so bleiben.  
    „ Ihre Familie“, wiederholte Dvorschak. „Ihre Frau. Ihre Kinder.“  
    Er zückte ein Foto, das vier glückliche Personen, darunter Alexander selbst zeigte. Aufgenommen in Kuba. Am Strand.   
    Im Krankenhaus strahlten ihre Abbilder eine nahezu obszöne Gesundheit aus, braungebrannt die Haut, die Haare von gleißenden Sonnensträhnen durchzogen, blitzende Augen, Heißhunger auf Leben.   
    Man konnte das Meeressalz in der Luft riechen.   
    Schmecken.   
    Dieses Foto hielt er Alexander vor die starr geöffneten Augen, so lange bis es sich durch dessen Retina gebrannt, durch den Glaskörper gefressen, die Pupille durchstoßen hatte. Dann drang es weiter ein, in sein rohes, blutendes Inneres, und weckte dort einen Schmerz, wie man ihn sonst nur vom alles verzehrenden, alles reinigenden Feuer kennt.  
     
     
    ***
     
     
    Genau in dem Moment, als Alexander diese brutale Wiedergeburt erfuhr, genau da erkannte er die Höhe der offenen Darlehen. Genau da schwor er sich, keinen Groschen zu erlassen, keinen Groschen schuldig zu bleiben, egal, was es ihn selbst kosten würde, egal, ob am Ende, unterhalb des Summenstriches, eine positive Zahl herauskommen würde oder nicht.

1989
     
     
    Er konnte sich nicht erklären, wieso Telefonzellen schlimmer stanken, wenn es kalt war. In den Schächten der U-Bahn war es umgekehrt. Er hob den Hörer ab, legte auf. Zählte noch einmal das Kleingeld in seiner Hand. Vier Schilling. Er kramte in seiner Hosentasche: Nichts. Sah in seiner Geldbörse nach. Es fiel ihm schwer, das Münzfach zu öffnen. Der Druckknopf war für seine zitternden Hände zu klein. Irgendwann schaffte er es dann doch. Wieder nichts. Vier Schilling. Er hob ab. Wählte die erste Ziffer, die zweite.  
    Legte auf.   
    Vier Schilling reichten einfach nicht. Er blickte durch die Schwingtür. Ein Mann trat ungeduldig von einem Bein auf das andere. Sah ihm geradeheraus in die Augen. „Beeil, Dich, Du Trottel“, sagte der Blick. Alexander öffnete die Tür. „Entschuldigen Sie, könnten Sie mir vielleicht einen zwanzig Schilling-Schein wechseln. Ich fürchte ich ...“  
    „ Nein.“ 
    „ Aha. In Ordnung. Danke.“  
    Alexander ließ die Tür wieder zuschwingen. Überlegte. Er konnte etwas kaufen, etwas Kleines, mit einem Schein bezahlen, dann hätte er genug Restgeld. Er trat hinaus. Nickte dem Mann zu, dass er eintreten könne, hielt ihm die Türe auf und ließ sie in dem Moment los, als er sicher war, dass sie mit dem größt möglichen Schwung auf dessen Rücken landen würde. Er lächelte leise, als ihm der Fremde nachschimpfte, dann überquerte er die Straße.  
     
     
    ***
     
     
    In einem halben Jahrzehnt ändert sich vieles. Manches nicht. Das Stadtbild gehört zu ersterem. Ist man täglich mit ihm konfrontiert, glaubt man, es bleibt immer gleich. Hat man hingegen fünf Jahre seines Lebens verloren, fällt jede Kleinigkeit auf – zum Beispiel, dass die Greißler aufgehört hatten zu existieren und von Supermarktketten ersetzt worden waren.  
    Was einem Trinker egal sein konnte. Denn was sich nicht geändert hatte, war, dass diese verlockenden kleinen Fläschchen direkt an der Kassa verkauft wurden. Nur eben an der Kasse des Marktes, statt der eines Feinkost-Ladens.  
    Was sich ebenfalls nicht geändert hatte, war, dass das niemanden zu stören schien.  
     
     
    ***
     
     
    Er hatte sich Hoffnungen gemacht und deshalb fünf Wodka-Fläschchen gekauft. Obwohl er Branntwein bevorzugte. Wodka jedoch verursachte kaum eine Fahne. Und falls sie ihn, gleich nachdem er angerufen hatte, sehen wollte, wollte er nicht nach Alkohol riechen. Trinken musste er trotzdem. Um den Mut zu finden, den Hörer abzuheben, die sieben Ziffern der Wahlscheibe zu drehen und nicht sofort wieder

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