Der Hühnerführer: Roman (German Edition)
kitschig aber auch irgendwie heimelig.
Nervös hatte er das Lokal betreten, war zuerst die Tische im Parterre abgegangen, dann die Treppe in den ersten Stock hochgestiegen. Er sah sie sofort: Carolina, Johannes und Benjamin. Der Anblick seiner Söhne löste in ihm einen Schock aus. Sie waren neun gewesen, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Kinder. Jetzt, mit vierzehn, schlaksig, selbst im Sitzen ein wenig ungelenk, befanden sie sich bereits auf dem besten Wege, Männer zu werden. Fünf Jahre. Beinahe hätte er auf dem Absatz kehrt gemacht, hätte sie ein weiteres Mal verlassen. Doch direkt hinter ihm kamen bereits die nächsten Gäste die Treppe hoch. Hätte er sich an diesen vorbeigedrängt, hätte die daraus resultierende Unruhe seine Söhne womöglich dazu veranlasst, hochzublicken, in seine Richtung zu schauen und zu sehen, wie er Reißaus nahm. Ein Feigling.
Also wappnete er sich innerlich, schloss die Augen, zählte bis drei und ging zum Tisch. Beide Söhne blickten in der selben Sekunde hoch. Beide hatten dieses unwirsche Fragen in den Augen: „Ja, bitte? Wieso stellen sie sich an unseren Tisch? Würden Sie bitte gehen, wir warten auf unseren Vater.“ Tatsächlich nur für eine Sekunde, viel zu kurz, um dem Missverständnis auch verbal Ausdruck zu verleihen. Aber lange genug, um von Alexander bemerkt zu werden.
„ Papa?“. Unisono. Zögerlich.
Er stand nur da, nickte. Die Kehle zugeschnürt. Die Augen brennend.
„Papa.“ Sie standen auf. Wussten nicht, wie sie reagieren sollten, sahen sich an. Johannes streckte seine rechte Hand aus. Alexander schüttelte sie steif. Dann die Benjamins. Dann setzten sie sich.
Carolina sagte kein Wort, sah von einem zum anderen. Suchte in den Augen ihrer Männer nach den Jahren, die verloren waren.
Es waren weit mehr als fünf.
***
„Und, was macht ihr so?“ Er rührte in seinem Großen Espresso herum. Die Crema war schon lange zerstört, der Zucker schon lange zersetzt, das Getränk schon lange kalt. Er ließ die schwarzen Schlieren trotzdem kreisen, hielt sich an dem winzigen, schwer von den schmerzenden Fingern zu haltenden Löffel fest. Er schaffte es nicht, hochzusehen, als er die Frage stellte. Es dauerte, bis einer der beiden antwortete.
„ Weiß nicht.“ Benjamin. Wahrscheinlich.
„ Sport.“ Johannes?
„ Sport, ja Sport. Stimmt. Fußball.“
„ Fußball. Ja, Fußball.“
„ Fußball?“ Es kostete ihn alle Kraft der Welt, den Blick zu heben. „Fußball … das ist ... schön. Das mochtet Ihr früher auch. Und sonst?“
„ Sonst?“
„ Ja. Sonst.“
„ Weiß nicht.“ Benjamin zuckte mit den Achseln, sah zu Johannes.
„ Weiß auch nicht. Fernschauen?“
Benjamin nickte. „Fernschauen. Ja. Fernschauen.“
Es tat weh.
***
Er erzählte ihnen wenig – und nichts davon, was er war, wie er war, was er von sich verloren und zurückgelassen hatte. Sie wollten es nicht wissen. Hätten sie es wissen wollen, er hätte es ihnen nicht erzählt. Sie waren vierzehn. Mit vierzehn muss man manche Dinge nicht wissen. Dachte er zumindest. Vielleicht ein Fehler.
***
Ihm wurde erst bewusst, dass er weinte, als er merkte, dass der Polster links und rechts von seinem Kopf nass geworden war. Er stand auf, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser ab. Das Waschbecken war winzig, der Boden ringsum bald rutschig vom Spritzwasser. Er stieg vorsichtig über die Pfütze hinweg, legte sich wieder hin, kurze Zeit später war er wieder eingenickt.
***
Er schlief den Nachmittag durch, am frühen Abend ging er hinunter und fragte, ob man ihm das Abendessen aufs Zimmer bringen könne. Der Wirt fragte ihn, ob es ihm gut gehe. Er bejahte, kehrte auf sein Zimmer zurück, wartete auf dem Bett sitzend auf sein Essen.
Er aß, stellte das Geschirr vor die Tür, legte sich wieder hin, schlief ein.
***
Als er diesmal aufwachte, fühlte er sich seltsam erfrischt. Seltsam frei. Er ging nach unten, frühstückte, bezahlte seine Rechnung, hinterließ ein großzügiges Trinkgeld uns stieg in den Wagen.
Heute würde er die Stelle finden.
***
Knapp vier Stunden später war es soweit.
Aufgeregt sprang er aus dem Wagen. Orientierte sich noch einmal kurz. Doch, ja, ohne Zweifel. Hier war es. Er begann mit einer Campingschaufel Löcher zu graben. Nach dem dritten Versuch hatte er die Tüte
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