Der Hueter der Koenigin - Historischer Roman
Anscheinend bist du der Einzige, der noch klar zu sehen vermag.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen, und er reichte ihr verblüfft den Arm, um sie hinauszugeleiten. Als sie die Wachen passierten, die sich sofort an ihre Fersen hefteten, ging ihm auf, was sie gerade tat. Sie rettete ihn davor, verhaftet zu werden, wie es Wandalenus anscheinend gewollt hatte.
In ihrem kleinen privaten Empfangszimmer angekommen, schickte sie die Dienerinnen hinaus, die einen Imbiss holen sollten.
„Merkwürdig, ich bin hungrig.“
„Und du willst, dass ich dir beim Essen Gesellschaft leiste?“, fragte Wittiges ungläubig.
„Warum nicht? Wer will denn noch etwas mit mir zu tun haben? Du hast es erlebt: Niemand kann Wandalenus aufhalten“, sagte sie bitter. „Aber ich danke dir, dass du es versucht hast. Das war mutig von dir.“
„Was sollte ich sonst tun? Der Heerbann ist aufgerufen worden. Ich konnte nicht fernbleiben.“
Sie schlug die Hände vors Gesicht und ließ sie in einer Geste grenzenloser Verzweiflung wieder sinken. „Ich habe keine Macht mehr, Wittiges. Die einzigen Männer mit Rückgrat, Lupus und Dynamius, haben sich auf Guntrams Seite geschlagen. Vielleicht hätte Lupus Wandalenus aufhalten können, aber so ist niemand mehr da, der sich gegen ihn stellt. Außer dir. Aber das wird er dich teuer bezahlen lassen.“
Ich weiß, dachte Wittiges beklommen. Ich weiß auch, wie. Wieder hielt Brunichild die Hände im Schoß. Wittiges ging in die Hocke und nahm ihr den Gegenstand ab, den sie umklammert hielt. Es war Sigiberts goldener Handgelenksring, der zu den Insignien seiner königlichen Macht gehörte. Ein eingearbeiteter Stierkopf verwies auf Sigiberts mythischen Ahnherrn, einen stierköpfigen Meeresgott. Wittiges hatte Sigibert häufig genug mit diesem Ring auf dem Marsfeld gesehen, dem jährlichen Aufmarsch der Krieger, und bei anderen feierlichen Anlässen. Die Macht der Könige galt als Garant für den Frieden und den Wohlstand der Bevölkerung, schoss es ihm durch den Kopf. Aber jetzt herrschte nur noch die Gier Einzelner, die sich die Wirren der Zeit zunutze machten.
„Lass ihn mir. Er hilft mir dabei, nicht völlig den Verstand zu verlieren“, sagte Brunichild leise. „Ich will ihn bei mir haben, wenn ich sterbe.“
„Was redest du da? Du stirbst nicht“, fuhr er auf.
„Ich bin Wandalenus zu unbequem. Er hat Bertho in der Hand, er braucht mich nicht mehr. Gib mir den Reif.“
Die Truppen würden sich in Reims sammeln, das war schon gleich zu Beginn der Versammlung besprochen worden. In Reims, wo sich Bertho, der kleine König, aufhielt.
„Nein, den brauche ich. Und nun hör mir gut zu: Du reist nach Reims. Wenn du gleich aufbrichst, wird dich Wandalenus nicht an der Abreise hindern, er ist noch mit den Vorbereitungen für den Krieg beschäftigt, und er hält dich ohnehin für außer Gefecht gesetzt. Nutz die Zeit, solange er glaubt, auf der Höhe seiner Macht zu stehen und hier keine ernst zu nehmenden Gegner mehr zu haben.“
„Und du? Was hast du vor?“, fragte sie ängstlich.
Zärtlich strich er ihr über die Wangen. „Du hast noch Verbündete, du weißt es nur nicht. Vertrau mir. Wir sehen uns in Reims. Sieh zu, dass Bertho immer bei dir ist. Er ist der König.“ Er lächelte sie aufmunternd an.
Sie umschloss sein Gesicht mit beiden Händen und küsste ihn auf den Mund. „Ich konnte nicht glauben, dass ausgerechnet du mich im Stich lässt.“ Sie schob ihn von sich, ihre Stimme wurde nüchtern. „Wie willst du an Wandalenus’ Wachen vorbeikommen? Er lauert doch nur darauf, dich in den Kerker werfen zu lassen.“
Er grinste schief. „Tja, das ist die Frage. Da müssen wir uns rasch etwas einfallen lassen.“
Die Dienerinnen traten wieder ein, und er erhob sich. Während die Mädchen geschäftig umherhuschten, fiel ihm tatsächlich etwas ein.
„Vertraust du deinen Mägden?“
Zum Glück waren zwei der Mädchen kräftig genug, um einen Waschkorb zu tragen, in dem sich Wittiges unter einem Haufen schmutziger Leibwäsche verbarg. Die Mädchen schleppten den Korb über eine unbewachte Hintertreppe bis zum Waschplatz im Außenbereich der Residenz, und von dort gelangte Wittiges in den Stall und zu seinem Pferd. Er hatte seine Knechte nicht mit in den Palast genommen, sondern vorsorglich in einem Gasthof in der Stadt untergebracht. Auf dem wilden Ritt nach Reims überlegte er tausendmal, ob er es sich noch leisten konnte, vorher nach casa alba zu reiten. Der Umweg würde ihn
Weitere Kostenlose Bücher