Der Hueter der Koenigin - Historischer Roman
unablässig Zweige ins Gesicht, bis sie anhalten mussten, weil quer vor ihnen ein umgestürzten Baum den schmalen Weg versperrte, der über den Hügel hinweg zu Theodos Hof führte. Nur undeutlich sah Wittiges, wie sich der Knecht, der sie geholt hatte, vom Pferd gleiten ließ.
Bei dem umgestürzten Baum regte sich etwas. Eine dunkle, bucklige Masse, die sich bei ihrem Herannahen streckte, zu ungeheurer Größe aufrichtete und brüllte.
Ein Bär!
Und jemand schrie, schrie in Todesnot.
Wittiges sprang aus dem Sattel, zog das Schwert blank, warf einen Blick auf Viola hinter sich und wollte ihr zurufen, sie solle zurückbleiben. Sie aber schnellte in einer einzigen Bewegung vom Pferderücken, kam federnd auf dem Boden auf, in beiden Händen Dolche, die sie unverzüglich warf.
Der Bär zuckte, die Messer waren ihm in die Seite gefahren, dennoch tappte er brüllend auf sie zu. Vielleicht lag es am Regen, dass er so riesig wirkte.
Wittiges stieß der Bestie unterhalb der Rippen das Schwert bis zum Heft schräg nach oben in den Leib, um das Herz zu treffen. Statt zusammenzubrechen, presste ihn der Bär in eine Umarmung, bis ihm die Luft wegblieb und die Rippen schmerzhaft knackten. Als der Bär die vom letzten Fraß blutigen Zähne entblößte, schlug Wittiges stinkender Atem ins Gesicht. Auf einmal ragte ein Pfeil aus der Schnauze des Raubtiers und die Augen überzogen sich mit einem glasigen Schimmer. Wittiges stemmte sich gegen den mächtigen Leib, spürte, wie jemand von hinten an ihm zerrte, und überraschend gab ihn der Bär frei. Mit einem grässlichen Stöhnen fiel die Bestie auf den Rücken und rührte sich nicht mehr.
„O, Pontus, du hättest mich treffen können“, murmelte Wittiges entsetzt. Er nahm an, dass sein Freund den Pfeil abgeschossen hatte.
So war es auch. Als sich Wittiges zu ihm umwandte, nahm Pontus den zweiten Pfeil, den er bereits eingelegt hatte, von der Bogensehne.
„Wegen dieses Bären hast du uns in den Wald geholt?“, schrie Wittiges den Knecht an.
Der schüttelte nur den Kopf und deutete, am ganzen Körper schlotternd, auf etwas kaum Erkennbares, das sich unter dem Stamm des Baums schwach regte. Ein Mann lag dort, halb vom Baum verdeckt, ein Mann, der wimmerte, dessen ganzer Kopf mehr oder weniger eine blutige Masse bildete. Viola kniete bereits neben ihm, tupfte behutsam mit einem Zipfel ihres Kleids den blutigen Schaum ab, der aus dem Mund quoll. Wittiges bückte sich zu ihr hinunter und zog sie beiseite. Der Mann lag im Sterben, daran gab es keinen Zweifel. Ohne auf ihren Protest zu achten, kniete Wittiges nun seinerseits nieder, riss sich den nassen Umhang herunter und schob ihn unter den Kopf des Mannes. Der herabstürzende Baum hatte ihn in der Leibesmitte getroffen. Wittiges wollte sich nicht vorstellen, welche Verletzungen er angerichtet hatte, den Rest hatte der Bär besorgt. Es glich einem Wunder, dass der Mann noch lebte. Er wollte sprechen, bewegte die Lippen, aber kein Laut drang heraus. Wittiges legte sich flach auf den Boden, bis er das Ohr am Mund des Unglücklichen hatte.
„Cniva“, winselte der Mann. Wittiges hob den Kopf, starrte in das zerstörte Gesicht. Kannte er den Mann? Ein Röcheln veranlasste ihn, das Ohr wieder so nahe wie möglich an den Mund des Sterbenden zu bringen.
„Cniva, Alex... Tours ...“ Lange hörte Wittiges nur Röcheln, während ihm der Regen in die Augen rann und sich sein Körper in der ungewohnten Stellung verkrampfte. Pontus rüttelte ihn an der Schulter.
„Der Baum muss weg“, brüllte er.
„Nein!“, schrie Wittiges. „Das hat keinen Zweck mehr, außerdem ist er viel zu schwer.“
Aber Pontus und der Knecht zogen Wittiges auf die Füße. „Wir müssen es sowieso tun. Wir können den Mann nicht hier liegen lassen. Die Pferde sollen den Stamm beiseiteziehen, gemeinsam schaffen sie es.“
„Sobald wir ihn bewegen, ist er tot“, entgegnete Wittiges und wollte sich wieder neben dem Verletzten niederlassen, aber da ging ein Ruck durch den geschundenen Körper und er lag still. „Jetzt ist er’s“, fügte Wittiges beklommen hinzu.
Da sie nun keine Rücksicht mehr nehmen mussten, zerrten sie tatsächlich mit Hilfe der Pferde den Stamm beiseite, mit den bei jedem Donnerschlag scheuenden Tieren eine Schinderarbeit. Der Körper des Toten zeigte sich weniger verletzt als erwartet. Wittiges spähte prüfend zum Baum. Er wies eine leichte Krümmung auf, sodass er den Mann beim Niederbrechen nicht völlig zerquetscht hatte.
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