Der Hund des Propheten: Roman (German Edition)
ist klar, warum Hartlaub angerufen hat. Die Sitzungen des Wahlausschusses sind geheim. Aber trotzdem wird er wissen wollen, ob und wie viel Gegenstimmen es gegeben hat.
Eigentlich ein unsittliches Ansinnen. Schließlich ist er mein künftiger Chef. Er dürfte mir das nicht zumuten.
Aber es ist Hartlaubs Problem, wenn er jetzt schon Nerven zeigt. Rübsam zieht das Telefon zu sich her, Hartlaub meldet sich, kaum dass die Verbindung hergestellt ist.
»Danke, dass du zurückrufst …«
Hartlaub und Rübsam haben zu gleicher Zeit in Tübingen studiert, saßen beide morgens um acht Uhr beim eruptiven Michel und ließen sich die judaistischen Feinheiten der synoptischen Tradition ins Ohr brüllen. So etwas verbindet. Es wäre albern, würden sie sich nicht duzen.
»Ich bin vorhin vom Oberkirchenrat in Kenntnis gesetzt worden«, sagt Hartlaub, »dass ich jetzt doch nach Ulm gehen soll. Und das hat mich nun ein bisschen umgeworfen… Nach diesem dummen Zeitungsartikel konnten wir nicht mehr damit rechnen, verstehst du? Und ich weiß auch gar nicht, ob ich Marielouise das alles zumuten kann…«
Rübsam ertappt sich dabei, dass er den Hörer ein Stück weit von seinem Ohr entfernt hält. Die Stimme klingt ihm zu nah und zu vertraulich.
»Du weißt ja, wie Marielouise ist«, fährt die Stimme fort, und Rübsam überlegt, ob er das wirklich weiß.
»Sind die Anwürfe wegen dieses Posaunenchors denn nicht zur Sprache gekommen?« Die Stimme wird fast drängend. »Natürlich weiß ich, dass die Aussprache im Wahlausschuss vertraulich bleiben muss. Aber ich kann nicht nach Ulm gehen, wenn ich überhaupt keine Ahnung habe, wer da alles mit dem Dolch im Gesangbuch herumläuft…«
»Mit solchen Leuten musst du immer rechnen«, antwortet Rübsam. »Überall. Aber immerhin kann ich dir sagen, dass Marielouises Ärger mit den Posaunisten zur Sprache gekommen ist. Nur, und das musst du mir jetzt einfach glauben, dieser Ärger hat dann keine Rolle mehr gespielt. Und das Wahlergebnis ist so, dass du dich nicht beklagen kannst. Alles andere muss jetzt deine Entscheidung sein.«
Mehr sag ich dir nicht.
»Ich verstehe dich«, sagt die Stimme. »Und mit meiner Bewerbung habe ich mich eigentlich ja schon entschieden. Einen Rückzieher würde der Oberkirchenrat nicht verstehen… Hättest du denn am Nachmittag etwas Zeit für uns? Marielouise und ich würden uns gerne die Stadt etwas genauer ansehen, die Dienstwohnung vor allem. Wir müssten auch wissen, an welcher Schule wir Pascal anmelden sollen.«
Rübsam sagt, dass er sich den Nachmittag freinehmen kann. Erleichtert legt er auf.
»Tut mir Leid, dass ich nicht zur Beerdigung kommen konnte.«
Berndorf schüttelt unmerklich den Kopf. Soll er jetzt sagen, der Prophet werde es ihr nicht übel genommen haben? Sie gehen unter den hohen Bäumen des Ulmer Alten Friedhofs. Tamar hatte im Café gesagt, sie brauche ein paar Atemzüge frischer Luft, und so waren sie hierher gegangen, aber offenbar gibt jetzt der Ort das Thema vor. Berndorf bleibt neben dem Grabmal eines Ulmer Kommerzienrats stehen, dem der saure Regen tiefe Tränenrinnen ins Gesicht gegraben hat, und blickt auf den Hund.
Seit gestern trottet dieses Tier neben ihm her, in unerklärlichem Vertrauen darauf, dass Berndorf es zu seinem Herrn führen wird, frisst achtlos, gleichgültig einen halben Teller von dem feinen proteinreichen Diensthundefressi, das der Hundeführer der Ulmer Polizei gestern Abend noch vorbeigebracht hat, schläft im Flur vor der Wohnungstür, damit ihn nur ja niemand übersieht oder vergisst, wenn es wieder nach Wieshülen geht zu Jonas Seiffert, damit die Welt wieder sein wird, wie es sich gehört.
Aber in dieser Welt bleibt nichts, wie es sich gehört.
Berndorf überlegt, ob er Felix von der Leine lassen kann. Ob der Hund dann womöglich, wie von einer unsichtbaren Leine gezogen, den Weg nach Wieshülen einschlägt, unaufhaltsam trottend über die Straßen und den Autobahnzubringer und die Dörfer und Weiler… Ach was, denkt er, ich kann ihn nicht die ganze Zeit herumzerren – und er mich –, und macht die Leine los.
Aber Felix rennt nicht weg, sondern läuft zum Grabmal des Kommerzienrats und hebt sein Bein.
»Sie haben in Wieshülen diesen Reporter getroffen? Hollerbach heißt er.«
»Ja, hab ich.« Warum willst du das wissen?
Felix hat auf den von Rasen bedeckten Gräberfeldern des Alten Friedhofs einen Schwarm Saatkrähen entdeckt und sich unversehens in rumpelnde Bewegung
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