Der Hund des Propheten: Roman (German Edition)
westlichen Ende des Alten Friedhofs das metallverkleidete Verlagsgebäude des »Tagblatts«, schwäbisch und dauerhaft, als habe eine Zeitung noch mehr als anderes den Zahn der Zeit zu fürchten. Warum lässt er sich nicht im Archiv Jonas’ Geschichte von damals heraussuchen? Das, zumindest, ist er dem Andenken des Propheten schuldig.
Und Frentzel schuldet wiederum ihm noch einen Gefallen, mindestens.
Berndorf holt seine Taschenuhr heraus, es ist kurz vor Mittag, also wird Frentzel in der Redaktionskonferenz sein. Da kann er schlecht stören.
Plötzlich spürt Berndorf, dass ihn jemand beobachtet.
Der Hund ist stehen geblieben, und blickt, weil er nicht weiß, in welche Richtung es weitergeht, fragend zu Berndorf hoch. Zum ersten Mal tut er das.
»Erst mal nach Hause«, sagt Berndorf.
Es ist eine Frau, die in Tamars Büro wartet: eckiger, kräftiger Körper, in ein braunes Kostüm gezwängt, das schwarze gelockte Haar mit der weißen Strähne achtlos zu einem Knoten zusammengesteckt, das Gesicht rot, wie gegerbt, die Augen dunkel, schweifend.
Die Frau stemmt sich sofort aus dem Besuchersessel hoch, zögert aber, als Tamar die Hand ausstreckt. Zu spät erkennt Tamar den Grund für das Zögern, der Frau fehlt der rechte Zeigefinger, die Häckselmaschine…
Der Händedruck mit den vier Fingern gerät irgendwie befremdlich, aber doch kräftig, wie denn überhaupt die Ortsbäuerin Waltraud Ringspiel aus Lauternbürg eine sehr Herzliche ist und auch gar nicht auf den Mund gefallen. Außerdem ist sie eine, die weiß, was sie zu tun hat, wenn es darauf ankommt, zum Beispiel wegen dieser schrecklichen Geschichte, also da ist sie gleich nach Ulm gefahren, weil, die jungen Dinger, die sind doch sowas von kopflos, also vielleicht nicht in der Stadt, aber bei uns auf dem Land, auch wenn sie weiß Gott wie wunderfitzig tun und nach Marbella fliegen oder auf die Malediven…
Tamar sagt nichts, weil sie auch nichts zu sagen braucht, und bugsiert die Frau wieder auf den Besucherstuhl.
Aber sie ist jetzt schon arg froh, sagt die Besucherin, dass sie mit einer Frau reden kann, auch wenn sie ja immer gedacht hat, das ist kein Beruf für eine Frau, also wirklich, wenn sie die Kommissarinnen im Fernsehen sieht und sich vorstellt, sie müsste da die toten Leut’ anfassen, obwohl, früher haben sie im Dorf die Leichen auch selber gewaschen, wenn eins gestorben ist, der Sargtischler hat den Sarg gebracht und das andere haben die Frauen selbst gemacht, wenn etwas heikel ist, müssen es immer die Frauen machen, vielleicht ist es auch gerade deshalb, dass eine so nette junge Frau wie die Frau Kommissarin einen solchen Beruf hat, aber jedenfalls denkt sie das jetzt nicht mehr, dass das eine Frau nicht machen sollte, weil, es ist doch besser, wenn man über manche Sachen von Frau zu Frau reden kann…
Tamar hat inzwischen einen Ordner aus ihrer Schublade geholt. Es ist ein nur leicht angekohlter Ordner, sie hat ihn noch in der Nacht gefunden, nicht im ehedem Hollerbach’schen Haus, sondern im Garten dahinter, vom Feuer herausgewirbelt vermutlich, wie sonst kommt der Ordner dahin? Es muss ein ziemliches Feuer gewesen sein, so leicht ist der Ordner nicht, voll gepackt mit Negativen.
Aber dazu äußert sich Tamar jetzt nicht, überhaupt muss sie gar nichts sagen, weil das die Ringspiel Waltraud besorgt.
Also, so erklärt die Ortsbäuerin, man darf den jungen Dingern nicht bös sein, das versteht die Frau Kommissarin doch sicher. Es ist das Fernsehen, das schuld ist, und diese ganzen Pornos, da denken sich die jungen Dinger, sie müssten das alles auch, und natürlich, weil es die Kerle so haben wollten, dabei seien – also wenn sie ehrlich sein soll – die Kerle das gar nicht wert …
Tamar schlägt nun doch den Ordner auf und holt einen der Streifen mit den Kleinbild-Negativen heraus und betrachtet ihn gegen das Licht, während die Ortsbäuerin erst eine Weile weiterredet, und dann doch stiller wird.
Es ist die Container-Generation, denkt Tamar. In der Sauna ist es ihr auch schon aufgefallen. Irgendwann wird einer einen Aufsatz darüber schreiben: »Die Schamhaar-Trachten der heranwachsenden weiblichen Bevölkerung in den ländlichen Regionen Südwürttembergs«, eine Magisterarbeit vielleicht, und sie beim Institut für Empirische Kulturwissenschaften der Universität Tübingen einreichen, das Bildmaterial zur Verfügung gestellt von Eugen Hollerbach †.
»Die jungen Frauen sind also zu diesem Herrn Hollerbach
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