Der Hund des Propheten: Roman (German Edition)
gesprochen.
»Wer kümmert sich eigentlich um Felix?«, fragt Berndorf schließlich, und heuchelt den Halbsatz hinterher: »Solange Sie hier sind.«
Felix ist des Propheten alter, knochiger, stummelschwänziger und sabbernder Boxerrüde.
»Marzens Erwin«, antwortet Seiffert knapp, und Berndorf sagt sich, dass er sich das auch hätte denken können. Erwin Marz ist Gemeindearbeiter und Feuerwehrkommandant in Wieshülen, dem Albdorf, zu dessen Ortsvorsteher Seiffert schon vor vielen Jahren gewählt worden war.
Dann sieht Berndorf, dass die knochige Hand ihn zu sich herwinkt. Er beugt sich über den Kranken.
»Da ist noch eine Geschichte …«, sagt Seiffert halblaut.
Berndorf sieht ihm ins Gesicht. Plötzlich erkennt er wieder die Augen des Kriminalbeamten Jonas Seiffert, über den sich keiner lustig je zu machen wagte. Höchstens, dass man ihn hinter vorgehaltener Hand den Propheten Jonas genannt hat.
Seiffert öffnet den Mund, aber kein Wort ist zu hören, für einen Augenblick bleibt die Zeit stehen, Berndorf starrt in den Mund, in dessen Zahnreihen zwei große Lücken klaffen, dröhnend stürzt eine Wand von Lärm ein und begräbt das Zimmer unter sich. Berndorf schrickt hoch und tauscht einen entsetzten Blick mit der blonden Frau am Bett nebenan. Der Lärm stürzt und stürzt und schüttet alles unter sich zu und nimmt kein Ende, denn er wird von dem Posaunenchor gemacht, der draußen vom Innenhof mit unermüdlicher frommer Kraft gegen die Glasfassaden des Klinikums anzublasen begonnen hat. Wenn Berndorf sich nicht sehr täuscht, fliegt ihm gerade der Choral »Näher mein Gott zu Dir …« um die Ohren.
Deutlicher können sie es den Patienten aber wirklich nicht sagen, denkt er.
Die Frau am Bett nebenan steht entschlossen auf und will aus dem Zimmer gehen. Eine Schwester kommt mit einem Tablett herein, und die Frau sagt: »Hören Sie – wer verantwortet diesen Posaunenchor da draußen? Dieser Choral ist für meinen Freund nicht zu ertragen, nicht in seiner Verfassung…«
Die Frau spricht schriftdeutsch, mit einer fast unmerklichen Einfärbung, die Berndorf aber nicht zuordnen kann. Eine Schwäbin ist sie nicht.
»Da kann ich Sie jetzt aber gar net verstehen«, sagt die Schwester, »das sind doch lauter nette Leute, die blasen da ganz umsonst, weil sie den Patienten eine Freude machen wollen, da können Sie doch nicht so sein…« Die Schwester bleibt stehen und betrachtet nun ihrerseits die blonde Frau, sichtlich empört.
»Wenn das so nette Leute sind«, antwortet die Frau, »dann können die doch sicher auch Choräle spielen, die fröhlicher sind, die gibt es nämlich auch, und die keine zusätzliche Belastung darstellen für Menschen, die mit ihrer letzten Kraft darum kämpfen, Fassung zu bewahren…«
»Ich hab jetzt keine Zeit, mit Ihnen zu streiten«, gibt die Schwester zurück und schiebt sich mit ihrem Tablett an ihr vorbei, zu Seifferts Bett. »Schauen Sie, der Herr Seiffert hier, der freut sich immer, wenn ein Posaunenchor da ist, aber das ist auch ein ganz ein lieber Herr …«
Dann erklärt die Schwester, dass sie den Besucher leider wegschicken muss, und Berndorf steht auf, fragt dann aber, ob er nicht draußen warten könne. Doch Seiffert entscheidet anders.
»Nein, nein«, sagt er, »das hier ist alles keine Unterhaltung mehr für einen jungen Mann …«
»Aber Sie wollten doch…«, widerspricht Berndorf.
Seiffert hebt die Hand. »Auch Fragen haben ihre Zeit, ich hab nur grad nicht dran gedacht… Nett, dass Sie da waren. Und grüßen Sie die junge Kollegin.«
Die Hand bewegt sich, Abschied nehmend und zugleich den Weg weisend.
Berndorf versteht. Er nickt und hebt grüßend beide Hände, mit der linken die zur Faust geballte rechte Hand fassend.
Ich halte Ihnen die Daumen, soll das heißen. Als er sich zur Tür wendet, stellt er fest, dass die blonde Frau verschwunden ist.
Dienstag, 6. November 2001
Der Bus hält am Dorfeingang, auf dem Platz vor der Alten Molke, Berndorf steigt aus und schlägt den Kragen seines Trenchcoats hoch. Dabei wirft er einen Blick zum Himmel, über den in rascher Folge regengraue Wolken aus Nordwest ziehen. Im Geäst der schon halb entlaubten Apfelbäume auf der anderen Straßenseite hat sich ein Schwarm Saatkrähen niedergelassen, unversehens fliegt einer der Vögel auf, kreischend und ratschend folgen die anderen und kreisen in der undurchschaubaren Ordnung ihrer Flugbahnen.
Berndorf zupft den Trauerflor zurecht, den er am Revers trägt,
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