Der Hund des Propheten: Roman (German Edition)
und geht ins Dorf hinein, so eilig, wie es mit einem Trauerflor am Revers gerade noch schicklich ist. Das Dorf scheint verlassen, giftfarben schliert Öl durch eine Pfütze, vor einem der Höfe ist ein magerer, großer gelber Hund an einer Laufleine angebunden und starrt die Straße hinauf. Für einen Augenblick bleibt Berndorf stehen und versucht, den Hund anzusprechen, aber der wendet ihm nur einen kurzen Blick zu und versucht ein Wedeln mit dem Stummelschwanz und äugt schon wieder die Dorfstraße hinauf.
Berndorf geht weiter und biegt an einem kleinen, mit Kastanien bestandenen Platz zur Kirche ab. Das Dorf gehört zu den wenigen, die noch keinen neuen Friedhof angelegt haben. In den Reihen der Gräber rund um die Kirche ist eines frisch ausgehoben. Der Trauergottesdienst hat bereits begonnen, er steigt die Wendeltreppe hinauf, die zur Glockenstube und zur Empore führt, auch die Empore ist dicht besetzt, und so geht er vor bis zur Brüstung und legt seine Hände auf den Querbalken. Der Balken ist braun gebeizt und grob behauen, Risse durchziehen ihn der Länge nach. Er will durchatmen, und lässt es sogleich bleiben. Die Luft ist dunstig von alten, feuchten dunklen Kleidern und Mänteln, in Schwaden steigt der Geruch der Mottenkugeln auf.
Er beugt sich leicht über die Brüstung. Köpfe, dicht gereiht und grau. Manche altersweißgelb, das Haar strähnig über dem durchscheinenden Schädel. Vorne der Sarg, poliertes Holz schimmert im Kerzenlicht, wieso poliert? Jonas wäre es nicht recht gewesen. Zwei Frauen, die eine noch jung. Kräftige Rücken, kerzengerade. Tochter und Enkelin? Berndorf erinnert sich dunkel an ein Foto auf dem Schreibtisch der Ortsverwaltung. Hinter dem Altar der Öldruck mit den drei Kreuzen unterm Himmel von Flandern 1917.
Eine Novemberböe wirft sich gegen die Kirchenfenster und lässt die Holzrahmen aufseufzen.
Da ließ der HErr einen großen Wind aufs Meer kommen und hub sich ein groß Ungewitter auf dem Meer, dass man meinete, das Schiff würde zerbrechen.
Den Propheten und Ortsvorsteher Jonas Seiffert, Kriminalinspektor in Ruhe, hat nicht das Meer verschlungen und nicht der Walfisch. Der steinige Boden der Alb wird ihn unter sich begraben und nicht mehr herausgeben, bis die Liegezeit gemäß kommunaler Friedhofsatzung abgelaufen ist. Falls nicht vorher, man kann nie wissen, der Jüngste Tag eintritt. Und dann? Auferstehung? Keine sehr appetitliche Vorstellung, denkt Berndorf. Hat der Prophet das geglaubt? Was glauben die Frommen wirklich? Manchmal hatten sie Gespräche geführt, in den Stunden, bevor die Bosheit der großen Landeshauptstadt Ninive heraufkam vom Nesenbach und anläutete im Dezernat I, Kapitalverbrechen.
Na, so groß auch wieder nicht.
Aber die Gespräche hatten, bei Gott, nicht vom HErrn oder sonst den letzten Dingen gehandelt. Dienst ist Dienst. Der Prophet nahm es auch damit genau.
Und wenn Jonas keine Schicht hatte und auf dem Wochenmarkt gepredigt hat gegen den Eigennutz und die Selbstgerechtigkeit und weiß der Himmel was sonst noch, hat sich Berndorf das nie angehört. Er wäre sich wie ein Voyeur vorgekommen.
Was glauben die Leute überhaupt? Er sieht sich um. Neben ihm: Bauernschädel, breitflächig, apoplektisch. Einzelne erwidern den Blick, kurzes Nicken. Angedeutet. Würdig. Fast, aber nur fast, gehört er schon dazu. Ein Blick drängt sich zu ihm her. Noch ein Trenchcoat, angeschmuddelt. Verbeugung über die Bankreihen hinweg. Fettiges Haar ringelt sich, nach hinten gekämmt, überm speckigen Nacken. »Tagblatt« oder Generalanzeiger? »Tagblatt«. Im Namen irgendetwas mit Holder. Der Rasende Reporter des Lautertals. Immer dabei, wenn das Blaulicht lockt oder der Posaunenchor spielt. Holderbaum? Höllerer? Ich muss mir diesen Namen nicht merken. Warum ärgere ich mich, dass ich ihn nicht weiß?
»Ein im Glauben gelebtes und erlittenes Leben.« Der Pfarrer nuschelt.
»Ein Christ, der zu seinem HErrn betete und, wenn es sein musste, auch mit ihm gerungen hat und gerechtet.« Mag sein, denkt Berndorf. Dass er mit ihm gerechtet hat, glaub ich aufs Wort. Trotzdem ist es mir zu wohlfeil.
»Ein treuer Wächter.« Wer? Jonas? Oder sein Hund? Und wer überhaupt hat den Felix in dieser Hofeinfahrt angebunden? Wer immer es war: dort kann der Hund nicht bleiben.
Einmal hat Jonas von seinem Enkelkind erzählt, und dass er es besuchen will, irgendwo in Neusüdwales. Das hört sich nicht gut an. Wer nimmt schon einen verwaisten, alten, sabbernden Boxer
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