Der Hund des Propheten: Roman (German Edition)
weiteren Zeilen, bis er doch noch am letzten Absatz hängen bleibt:
Musikalisch umrahmt wurde die denkwürdige, von Wehmut umflorte letzte Sitzung des Kreistags Wintersingen vom Bläserchor der Jägervereinigung und dem Männerchor Lauternbürg, der in bewegender Weise das Lied »Ich hatt’ einen Kameraden, einen besseren find’st du nit« zum Vortrag brachte.
Berndorf zieht eine Grimasse und greift nach dem zweiten Artikel, datiert vom April 1984. Im Vergleich zu 1970 hat sich die Typografie des »Tagblatts« deutlich verändert, die Überschrift ist größer geworden, der Text knapper, wird aber von Zwischenzeilen unterbrochen. Der Artikel handelt von der Beerdigung des im Alter von 74 Jahren verstorbenen früheren Landrats Dr. Eberhard Autenrieth, dem auf dem Stuttgarter Waldfriedhof »zahlreiche Vertreter des öffentlichen Lebens sowie Abordnungen aus dem Altkreis Wintersingen das letzte Geleit gaben«. Am Grab wurden die besonderen Verdienste des Verstorbenen um den Ausbau des Kreisstraßennetzes und den Neubau der Realschule Wintersingen gewürdigt sowie sein unermüdlicher, wenn letztlich auch vergeblicher Kampf um den Erhalt des Landkreises Wintersingen. Berndorfs Augen irren weiter und finden Halt an der Zwischenzeile:
Der Weg des Gerechten
In seiner Predigt hatte Pfarrer i. R. Wilhelm Hartlaub, ein persönlicher Freund des Verstorbenen, den Lebensweg Eberhard Autenrieths unter das Bibelwort gestellt: »Denn der Herr kennt den Weg der Gerechten«. Autenrieth sei zu allen Zeiten diesen Weg gegangen und so allen Hilfesuchenden ein verläßlicher Freund gewesen, auch dann, wenn er dafür Anfeindungen habe erdulden müssen …
Berndorf legt die Kopie auf den Tisch zurück. Dass er dabei Keres’ Stellung verschiebt, merkt er nicht.
Das Zimmer ist dunkel, aber von der Straße fällt gerade genug Licht in die beiden kleinen, mit Sprossen unterteilten Fenster, dass sie sich von der Dunkelheit abheben.
Tamar sitzt in der dunkelsten Ecke, in dem Lehnstuhl, den sie sich auf dem Flohmarkt gekauft hat, irgendwann, als noch Frühling war. Sie hat die Schuhe von sich gestreift und die Füße hochgezogen. Eigentlich hatte sie eine Flasche Wein aufmachen und eine Platte auflegen wollen. Zu viel der Mühe.
Sie hat Ärger in der Direktion. Das ist nicht wert, dass sie auch nur daran denkt. Jemand hat diesen Fotografen totgemacht. Schlimm. In der Bundesrepublik Deutschland werden jedes Jahr fünftausend Menschen umgebracht, ohne dass ein Hahn danach kräht oder ein Arzt beim Ausstellen des Totenscheins auch nur die Augenbrauen hochzieht.
Der Mord an dem Fotografen soll jetzt dem Sinti angehängt werden, der ihr unter den Händen entwischt ist. Pech für ihn. Was läuft er der Polizei auch davon?
Hannah ist noch immer in München. Sie wird dort eine Ausstellung haben. Vielleicht nur das. Oder auch mehr. Beziehungen halten zwei Jahre. Plus minus ein paar zerquetschte Wochen. Hannah und Tamar sind wie lange zusammen? Tamar rechnet nach. Es sind über drei Jahre.
Na also. In der Szene gibt es keine Szenen. Man küsst sich sanft auf die Wange und sagt, mach’s gut.
Tamar wüsste nicht einmal, wie sie eine Szene machen sollte, wenn jemand da wäre, dem sie sie machen könnte. Aufstehen? Schreien?
Zu viel der Mühe.
Ein Wagen rollt in die Einfahrt. Am Geräusch erkennt Tamar, dass es ein alter Renault ist. Der Motor wird abgestellt. Einen Herzschlag lang fühlt sie, fast schmerzhaft, Erwartung.
Die Haustür öffnet sich und wird krachend zugeschlagen.
Warum hab ich das nie gemerkt, dass sie laut ist und polternd? Weitere Türen werden geöffnet und wieder zugeschlagen. Durch die Türritzen dringt Lichtschein. Jemand pfeift. Tamar erkennt die Arie des Cherubino: Ich weiß nicht, was ich bin, was ich mache / Bald bin ich Feuer, bald bin ich Eis …
Sie ist verliebt, denkt Tamar. Vielleicht sollte ich mich jetzt für sie freuen.
Die Tür fliegt auf, und die Deckenbeleuchtung schüttet beißendes Licht ins Zimmer. Noch immer pfeifend marschiert Hannah – schwarze Jeans, schwarzer Pullover, Windstoßfrisur – ins Zimmer und zieht die Vorhänge vor.
»Machst du das Deckenlicht bitte wieder aus?«, sagt Tamar leise.
»Oh.« Hannah dreht sich um. »Ich dachte, du bist noch im
Dienst …«
»Machst du das Licht aus, bitte?«
»Entschuldigung.« Hannah geht zum Tisch und knipst eine Stehlampe an. Dann löscht sie das Deckenlicht. »Is’ was?«
»Danke.« Tamar lehnt den Kopf zurück. »Zufrieden mit
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