Der Hund des Propheten: Roman (German Edition)
werden.
Berndorf nützt die Gelegenheit und fragt nach einer Strecke für einen späten Nachmittagsspaziergang, Jörg Ringspiel lässt die Kaffeetasse sinken und sagt, dass er ohnehin noch einen Weg machen will. »Wenn es dem Herrn recht ist …«
Berndorf ist es recht, und eine halbe Stunde später machen sich Ringspiel, Berndorf und Felix auf den Weg und gehen einen erst asphaltierten, dann nur noch gekiesten Weg zu den bewaldeten Anhöhen, die sich westlich des Lautertals hinziehen. Es ist kühl geworden, Berndorf ist froh, dass er sich seinen Anorak angezogen hat und dass Ringspiel kräftig ausschreitet. Ein wenig spürt Berndorf noch das linke Bein, aber vorerst meutert es nicht gegen das Marschtempo.
Nach einer guten halben Stunde sind sie auf der Anhöhe und gehen einen Buchenwald entlang. Zwischen den hohen Stämmen sieht Berndorf linkerhand die Überreste eines grauen Gemäuers, eine Wand mit leeren Fensterhöhlen.
»Die Ruine Wullenstett«, erklärt Ringspiel. »Hat mal zur Blaubeurer Herrschaft gehört.«
Berndorf will wissen, wann sie zerstört worden ist.
»Im Bauernkrieg, sagt man. Aber vermutlich ist sie erst im 18. Jahrhundert aufgegeben worden. Nach dem Spanischen Erbfolgekrieg. «
Berndorf sucht in seinem Gedächtnis. Aus ferner Erinnerung taucht ein kriegsbesessener Geschichtslehrer auf, Schlacht bei Höchstädt, Prinz Eugen, der edle Ritter, Malbrough s’en va-t-en guerre. Nicht an allem ist Napoleon schuld.
Sie kommen an einer ersten Wegkreuzung vorbei und an einer zweiten, die Markierungsschilder zeigen einen roten Strich auf weißer Raute und sind meistens an Baumstämmen angebracht. An der zweiten Kreuzung zweigt ein Verbindungsweg nach Osten ab, 17 Kilometer nach Schmiechen, 23 nach Blaubeuren. Eines der Blechschilder ist angerostet, Ringspiel – der in einem kleinen Rucksack Werkzeug bei sich trägt – schraubt das Schild ab und ersetzt es durch ein neues. Berndorf studiert den Wegweiser. Felix wartet.
Schließlich geht es weiter. Berndorf fragt, wann Blaubeuren eine eigene Herrschaft gewesen sei.
»Unter den Grafen Helfenstein.« Er wirft einen fast scheuen Blick auf Berndorf. »Zu Blaubeuren gehört ja die Geschichte von der Schönen Lau. Aber zu den Helfensteins gibt’s auch eine …«
Ach!, denkt Berndorf. Da ist einer, der auch einmal eine Geschichte zu erzählen hätte. Aber niemals gelingt es ihm.
»Erzählen Sie sie mir?«
»Man müsste sie vorlesen«, antwortet Ringspiel widerstrebend. »Wenn man nicht den Ton der alten Chroniken trifft, ist vielleicht gar nichts Besonderes dabei… Es sollen einmal zwei der Grafen Helfenstein, zwei Brüder, beim Blautopf spazieren gegangen sein, und wie sie so gehen, sieht der Ältere der beiden einen leuchtenden Stein auf dem Boden liegen. Er hebt ihn auf, und mit einem Schlag ist er nicht mehr zu sehen. Sein Bruder schaut sich um, wo bist du denn, ruft er … Und der Ältere antwortet, ich steh doch hier neben dir. Aber der Jüngere sieht noch immer nichts. Da drückt ihm der Ältere den Stein in die Hand, und jetzt ist es der Jüngere, den man nicht mehr sieht …«
»Kein Ring, sondern ein Stein, der unsichtbar macht«, fasst Berndorf zusammen. »Und was ist daraus geworden?«
Ringspiel antwortet nicht gleich. »Ich stell mir das so vor«, sagt er schließlich. »Die beiden Brüder haben sich ausgemalt, wo sie im Schutz des Steines überall hingehen können und ausspähen, was die Leute tun. Und sich nehmen, was ihnen gefällt. Aber wie sie darüber reden, fragen sie sich, wie sie das eigentlich untereinander halten wollen. Wer darf den Stein haben, wie lange und wann? Wie kann der Bruder, der den Stein nicht hat, durchsetzen, dass der andere ihn hergibt? Und wie der eine so aus den Augenwinkeln auf den anderen schaut, wissen sie plötzlich, dass sie nur eine Wahl haben.«
Der Stein ergreift die Herrschaft über den, der ihn benutzt, denkt Berndorf. Nichts Neues in Mittelerde. »Sie mussten also den Stein loswerden, sonst hätten sie sich gegenseitig totgeschlagen. Wohin haben sie ihn denn geworfen?«
»In den Blautopf«, antwortet Ringspiel. »Jedenfalls heißt es so in der Sage.«
»Wie haben die beiden weitergelebt?«, fragt Berndorf. »Das ist ja nicht so lustig, wenn der eine dem anderen die Mordlust an den Augen abgelesen hat.«
»Die Linien haben sich getrennt. Glück hat es ihnen nicht gebracht. Sie sind alle erloschen.«
Berndorf will wissen, wo er die Sage nachlesen kann.
»Das finden Sie im Internet«,
Weitere Kostenlose Bücher