Der Hund des Todes
Übelkeit nicht beschreiben, die ich empfand. Mit Händen wie diesen musste ihr Vater ihre Mutter erwürgt haben… Das war das letzte Mal, dass ich Felicie sah.
Anschließend musste ich nach Südamerika fahren. Ich kehrte erst zwei Jahre nach ihrem Tod wieder zurück. Ich hatte in den Zeitungen über ihr Leben und von ihrem plötzlichen Tod gelesen. Dann habe ich noch einige Einzelheiten mehr erfahren – heute Abend, von Ihnen, meine Herren. Felicie 3 und Felicie 4, wie Sie sagten. Sie war eine gute Schauspielerin, wissen Sie.«
Der Zug verlor langsam an Geschwindigkeit. Der Mann in der Ecke setzte sich aufrecht und knöpfte seinen Mantel zu.
»Was ist Ihre Theorie dazu?«, fragte der Rechtsanwalt und beugte sich vor.
»Ich kann kaum glauben…«, begann der Domherr Parfitt und hielt inne.
Der Arzt sagte nichts. Er starrte unverwandt auf Raoul Letardeau.
»Die Kleider von ihrem Körper – und die Seele aus ihrem Leib… «, wiederholte der Franzose leichthin. Er stand auf. »Ich sage Ihnen, Messieurs, die Geschichte von Felicie Bault ist die Geschichte von Annette Ravel. Sie kannten sie nicht, Gentlemen. Ich kannte sie. Sie liebte das Leben allzu sehr…«
Er hatte schon den Türgriff in der Hand – bereit, auszusteigen, als er sich noch einmal umdrehte und dem Domherrn Parfitt auf die Brust tippte.
»Monsieur le docteur dort drüben sagte vorhin, dass all das…«, seine Hand legte sich auf den Magen des Domherrn, und der Domherr stöhnte – »nur eine Residenz ist. Sagen Sie, wenn Sie in Ihrem Haus einen Einbrecher vorfinden, was würden Sie tun? Ihn erschießen, oder etwa nicht?«
»Nein«, schrie der Domherr. »Nein, natürlich nicht! Ich meine – nicht in diesem Land.«
Doch die letzten Worte hatte er in die Luft gesprochen, die Tür des Abteils knallte zu.
Der Geistliche, der Rechtsanwalt und der Arzt waren allein.
Die vierte Ecke im Abteil war frei.
Die Zigeunerin
M acfarlane hatte oft beobachtet, dass sein Freund Dickie Carpenter eine merkwürdige Abneigung gegenüber Zigeunern hatte. Den Grund dafür hatte er allerdings nie erfahren. Als jedoch Dickies Verlobung mit Esther Lawes gelöst wurde, existierte die Zurückhaltung, die zwischen den beiden Männern noch bestand, für einen kurzen Augenblick nicht mehr.
Macfarlane war mit Rachel, der jüngeren Schwester von Esther, seit ungefähr einem Jahr verlobt. Seit ihrer Kindheit kannte er die beiden Lawes-Töchter. In allen Dingen langsam und vorsichtig, hatte er sich widerwillig eingestanden, dass Rachels kindliches Gesicht und ihre ehrlichen braunen Augen einen zunehmenden Reiz auf ihn ausübten. Eine Schönheit wie Esther war sie nicht – o nein! Aber unsagbar wahrhaftiger und süßer. Durch Dickies Verlobung mit der älteren Schwester schien das Band zwischen den beiden Männern nun noch enger geworden zu sein. Und jetzt, nach einigen kurzen Wochen, war diese Verlobung wieder gelöst, und Dickie, der arme Dickie, war ziemlich betroffen. Bisher war in seinem jungen Leben alles so glatt verlaufen. Seine Karriere in der Marine war ein guter Einfall gewesen; die Sehnsucht nach dem Meer war ihm angeboren. Irgendwie hatte er etwas von einem Wikinger an sich: Einfach und direkt war er, und gedankliche Spitzfindigkeiten waren bei ihm vergeudet. Er gehörte zu jener unausgeprägten Art junger Engländer, die jede Gefühlsregung verabscheuen und denen es besonders schwer fällt, geistige Vorgänge in Worten auszudrücken.
Macfarlane, dieser verschlossene Schotte mit seiner keltischen Fantasie, die irgendwo verborgen schlummerte, lauschte und rauchte, während sein Freund sich durch ein Meer von Worten kämpfte. Er hatte gewusst, was kommen würde: Dass sein Freund sich alles von der Seele reden musste. Allerdings hatte er mit einem anderen Thema gerechnet. Jedenfalls fiel der Name Esther Lawes nicht ein einziges Mal. Anscheinend war es die Geschichte irgendeines kindlichen Entsetzens.
»Angefangen hat es mit einem Traum, den ich als Kind träumte. Kein richtiger Albtraum. Sie – die Zigeunerin, weißt du – tauchte bloß immer wieder in jedem Traum auf – selbst in guten Träumen (oder was ein Kind sich unter einem guten Traum vorstellt: eine Kindergesellschaft mit Knallbonbons und solchen Sachen). Ich hatte immer einen Mordsspaß dabei, und dann hatte ich plötzlich das Gefühl, dann wusste ich plötzlich ganz genau: Wenn ich jetzt hinschaue, ist sie da, steht sie da wie immer und beobachtet mich… Mit traurigen Augen, verstehst
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