Der Hund des Todes
Stiefmütterchen, samtig, weich und dunkel, und mehr violett als blau. In ihrem einfachen lila Leinenkleid sah sie auch aus wie ein Stiefmütterchen.
Das Mädchen blickte Jack mit einem Ausdruck zwischen Verärgerung und Erstaunen an.
»Verzeihung«, sagte der junge Mann, »aber haben Sie eben geschrien?«
»Ich? Nein, wirklich nicht.«
Ihre Überraschung war so echt, dass Jack seine Frage peinlich war. Ihre Stimme war weich und klang mit einem leichten ausländischen Akzent sehr reizvoll.
»Aber Sie müssen es gehört haben!«, rief er aus. »Es kam von irgendwo hier in der Nähe.«
Sie sah ihn verwundert an. »Ich habe überhaupt nichts gehört.«
Jetzt starrte Jack sie an. Es war völlig unmöglich, dass sie diesen gequälten Hilferuf nicht gehört hatte. Und doch strahlte sie eine solche Ruhe aus, dass er nicht glauben konnte, dass sie ihn anlog.
»Was wurde denn gerufen?«, fragte sie.
»Mord, Hilfe, Mord!«
»Mord, Hilfe, Mord«, wiederholte das Mädchen. »Jemand hat sich einen Scherz mit Ihnen erlaubt, Monsieur. Wer könnte hier schon umgebracht werden?«
Jack sah sich um. Er hatte die fixe Idee, irgendwo auf dem Gartenweg eine Leiche zu finden. Er war immer noch überzeugt davon, dass der Schrei, den er gehört hatte, echt gewesen und kein Produkt seiner Einbildung war. Er blickte zu den Fenstern des kleinen Landhauses hoch. Alles schien völlig ruhig und friedlich zu sein.
»Wollen Sie vielleicht unser Haus durchsuchen?«, erkundigte sich das Mädchen ironisch.
Sie war so voller Skepsis, dass Jacks Verwirrung immer größer wurde. Er wandte sich ab.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Der Hilferuf muss von weiter oben aus dem Wald gekommen sein.«
Er zog seine Mütze und ging. Während er über die Schulter zurückblickte, sah er, dass das Mädchen ruhig ihre Gartenarbeit wieder aufgenommen hatte.
Einige Zeit durchstreifte er den Wald, aber er konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Trotzdem war er so sicher wie zuvor, dass er diesen Schrei vernommen hatte. Schließlich gab er seine Suche auf, eilte zurück nachhause, um hastig sein Frühstück hinunterzustürzen und den Zug noch rechtzeitig zu erwischen.
Sein Gewissen drückte ihn ein wenig, als er im Zug saß. Hätte er nicht sofort der Polizei melden müssen, was er gehört hatte? Dass er es nicht tat, war einzig und allein der Reaktion des Mädchens zuzuschreiben. Sie hatte ihn ganz sicher verdächtigt, dass er anbändeln wollte. Wahrscheinlich hätte die Polizei das Gleiche vermutet. Hatte er den Schrei wirklich gehört?
Mittlerweile war er nicht mehr so sicher wie vorher. Vielleicht war es der Schrei eines Vogels gewesen, den er für eine Frauenstimme gehalten hatte? Ärgerlich verwarf er diesen Gedanken. Es war eine Frauenstimme gewesen, und er hatte sie gehört. Er erinnerte sich, kurz vor dem Schrei auf die Uhr geblickt zu haben. Es war fünfundzwanzig Minuten nach sieben gewesen, wenn er sich recht erinnerte. Das könnte ein brauchbarer Hinweis für die Polizei sein, falls irgendetwas entdeckt werden sollte.
Als er an diesem Abend nachhause fuhr, studierte er die Abendzeitung sorgfältig, um zu sehen, ob irgendetwas über ein Verbrechen erwähnt war. Er fand nichts, und er wusste nicht, ob er darüber erleichtert oder enttäuscht sein sollte.
Der folgende Morgen war nass, so nass, dass wohl auch der fanatischste Golfspieler seinen Eifer gezügelt hätte. Jack stand in der letzten Minute auf, schlang sein Frühstück hinunter und rannte, um seinen Zug zu erreichen. Wiederum durchsuchte er eifrig die Zeitung. Immer noch kein Bericht über irgendeine grausige Entdeckung. Die Abendzeitung brachte auch nichts.
Eigenartig, sagte sich Jack. Aber das wird es sein – ein paar kleine Jungen, die im Wald gespielt haben.
Am nächsten Morgen war er schon früh draußen. Als er an dem kleinen Landhaus vorbeikam, sah er mit einem Seitenblick das Mädchen, das im Garten wieder Unkraut zupfte. Offenbar eine Gewohnheit von ihr.
Er schlug seinen Ball in ihre Nähe, in der Hoffnung, dass sie ihn bemerken würde. Als er auf sein nächstes Ziel zuging, sah er auf die Uhr. »Gerade wieder fünfundzwanzig Minuten nach sieben«, murmelte er. »Ich bin gespannt…«
Die Worte erstarben ihm auf den Lippen.
Hinter ihm ertönte der gleiche Schrei, der ihn schon einmal entsetzt hatte. Eine Frauenstimme rief in schrecklicher Bedrängnis:
»Mord! Hilfe! Mord!«
Jack jagte zurück. Das Mädchen mit den Stiefmütterchenaugen stand an der Pforte. Sie hob
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