Der Hund, die Krähe, das Om... und ich!
Neurowissenschaftler erklärt den Weg zum Selbst, München 2010 (O. W. Barth Verlag).
TAG 56
108 Sonnengrüße
Heute ist der große Tag. Erstmals werde ich in einer großen, mir fremden Gruppe Yoga machen. Charity-Yoga gegen Menschenhandel.
Das Studio ist wirklich schön. Eine wunderbare alte Villa, alles ist hell und freundlich, auch die Frau, die mich begrüßt. Ich muss sagen, das ist etwas, was mir auffällt. Yoga-Menschen haben häufig etwas Strahlendes. Ihre Art wirkt nie aufgesetzt, sondern immer so, als würden sie irgendwie von innen heraus strahlen. Es ist mir schwergefallen, dass zuzugeben und vor allem auch zu schreiben. Von innen heraus strahlen, das klingt ein bisschen esoterisch. Aber mir fällt kein anderer Ausdruck dafür ein.
Wir sind etwa 15 Personen, davon bestimmt zwei Drittel erheblich jünger als ich. Ich gucke mich unauffällig um und versuche zu erahnen, wer hier derjenige oder diejenige sein könnte, der zuerst aufgibt. Ich darf ja nicht. Habe ich mir selbst vorgeschrieben. Ich kann hart mit mir sein. Wenn ich mir etwas vornehme, versuche ich es durchzuziehen, egal, ob es wie hier Publikum gibt oder ich nur für mich allein durch den Wald renne. Ich habe eine kleine Tendenz, mich selbst zu quälen oder sagen wir: mit mir selbst zu wetten. Nehmen wir mal meine Hassliebe Joggen: Wenn ich beschließe, eine bestimmte Strecke zu laufen, laufe ich sie. Auch wenn es mich an meine Grenzen bringt. Meine Mutter hat mich mal gefragt, warum ich dann zwischendrin nicht einfach eine Pause mache. „Es sieht dich doch keiner?“, hat sie gemeint. Das stimmt natürlich und es weiß ja auch niemand, was ich mit mir selbst abgemacht habe, aber ich mache trotzdem keine Pause. Einfach weil ich ja diesen Deal mit mir abgemacht habe. Das ist sicherlich etwas kindisch, aber es entspricht nun mal meinem Naturell.
Auch hier weiß keiner von meinem Vorhaben, nur ja nicht als Erste zu schwächeln (was an sich ja, wie ich sehr wohl weiß, keineswegs eine Schande wäre …).
Die Übungen beginnen, die Sonnengrußarie startet. Immer wieder der gleiche Ablauf. Sonnengruß für Sonnengruß für Sonnengruß.
Nach den ersten acht habe ich das unschöne Gefühl, dass diese Monotonie irre langweilig werden wird. Aber nach weiteren 25 Sonnengrüßen macht mir genau diese Monotonie Spaß. Man funktioniert wie ein Automat. Muss sich nicht darauf konzentrieren, die richtige Übung zu machen, sondern kann sich darauf konzentrieren, die Übung richtig zu machen.
Ich versuche, sehr bewusst zu atmen und nicht darüber zu sinnieren, wie lange das hier noch dauern wird. Auch nach einer guten Stunde hat sich noch niemand erschöpft auf seine Matte gelegt. Anscheinend sind um mich rum lauter erfahrene Yogis. Eine Gruppe Menschen, die fast synchron zu monoton gesprochenen Anweisungen die immergleichen Bewegungen macht, hat eine sehr beruhigende Wirkung. Die Lehrer wechseln sich ab. Benutzen Sanskritwörter, von denen ich keine Ahnung habe, was sie bedeuten. Man fühlt sich im positiven Sinne wie ein Hamster im Rad. Man läuft einfach so mit. Ein bisschen Probleme macht mir die ständige tiefe Liegestütze (Chaturanga), denn dummerweise wird hier der schwerere Sonnengruß praktiziert … keine Kobra, wie ich sie meist übe, sondern heraufschauender Hund …
Nach etwa einer Stunde und 45 Minuten ist es geschafft. Ich bin schweißnass. (Dummerweise hatte ich den Platz neben der Heizung, habe sie aber nach etwa 50 Sonnengrüßen runtergedreht.)
Es war schön. Aber für heute habe ich die Sonne ausreichend oft gegrüßt.
TAG 57
Jammerkrähe
Ich habe schlimme Schmerzen. Mein Nacken, meine Schultern, die ganze Schulterpartie bis hoch zum Kopf tut mir weh. Allerdings nur die linke Seite.
Meine linke Schulter ist so was wie meine Achillessehne. Ich will keine langweiligen Krankengeschichten erzählen, deshalb nur schnell die Kurzform. Vor vier Jahren, im Sommer 2007 war ich in Marathonvorbereitungen. Ausnahmsweise mal in guter Form, motiviert und willig, den verdammten Marathon zu laufen. Bei einer Trainingseinheit ist es passiert. Ich bin gestolpert und gefallen. Das muss man beim Joggen erst mal schaffen. Das Ergebnis: eine traumatische Schulterluxation. Die Schulter leer und eckig, der Arm eine Etage weiter unten. Kein schöner Anblick, etwas sonst Zusammenhängendes derart getrennt zu sehen. Aber mal abgesehen vom Anblick: Es hat wirklich saumäßig wehgetan. Um die Geschichte, die ich an sich sehr gern erzähle
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