Der Hund im Kuehlschrank
jüngste Sohn vom Vater weder Geld noch Gut, sondern nur einen alten Kater erhält, wird man neugierig, wie es ihm mit diesem Erbe ergehen mag. Und wenn sich dann herausstellt, dass dieser Kater kein normaler Kater ist, sondern ein Tier, das auf zwei Beinen gehen und sprechen kann, ahnt man schon, dass dieses Erbe eine Überraschung birgt . . . Das eine Geschehen ergibt sich logisch aus dem vorherigen. Auf diese Weise kann man eine Szene nach der anderen erzählen. Es sind nicht die Worte, die führen, sondern ein innerer Bilderfilm, bei dem man auch jederzeit vor- oder zurückspulen kann.
Ganz konkret könnte ein Storyboard zum Anfang dieses Märchens so aussehen: Das erste Bild zeigt einen alten Mann auf dem Totenbett, um das seine drei Söhne stehen. Auf dem zweiten Bild ist der Besitz des alten Müllers zu sehen – die Mühle, der Esel und der Kater –, und jedes wird einem der Söhne zugeordnet. Das dritte Bild könnte nun den enttäuschten jüngsten Sohn zeigen, der seinen Kater traurig betrachtet, während die beiden Brüder triumphieren. Auf dem vierten Bild fängt der Kater zu sprechen an, stellt sich auf die Hinterfüße und bittet um ein Paar Stiefel. So geht es weiter, bis Bild für Bild die ganze Geschichte entstanden ist.
Innere Bilder
Ein Wort, ein Satz, eine Textpassage, etwas auswendig Gelerntes – all das kann einem in der Aufregung entfallen. Innere Bilder aber verliert man nicht, denn sie sind fest verbunden mit einem Bild davor und einem Bild danach, einem Bild darüber und einem Bild darunter. Jedes Bild ist Teil eines ganzen Bildernetzwerks .
Innere Bilder kann man auf hunderttausend verschiedene Arten beschreiben, es gibt kein richtig oder falsch. Jeder Erzähler sieht seinen eigenen Film. So berichtet der eine Redner möglicherweise zuerst von den prachtvollen Stiefeln des Katers, die ihm auf eigenen Wunsch von einem Schuster angepasst werden. Ein anderer Erzähler lässt den Kater zuerst in die Welt hinausziehen, um erst später zu erwähnen, wie alle Leute auf der Straße den Kater anstarren – wegen der eleganten Stiefel, die er trägt. Und ein dritter Sprecher erzählt vielleicht sogar die gesamte Geschichte aus der Sicht dieser Stiefel, die dem redegewandten
Kater und damit letztendlich auch dem jüngsten Müllerssohn am Ende zu Ruhm und Ehre verhelfen. Es gibt kein richtig oder falsch, kein besser oder schlechter, kein zuerst dies und dann das, es gibt im Grunde genommen nur jede Menge innerer Bilder rund um den Kern einer Geschichte, die – genau betrachtet – in Worte gefasst und zu Gehör gebracht werden wollen.
Erzählen nach Bildern
Ich erinnere mich, wie eine Münchner Erzählkollegin sich einmal vorgenommen hatte, an einem Abend die ganze Geschichte von Pinocchio zu erzählen. Dies ist eine sehr lange Geschichte, in der jede Menge passiert. Obwohl meine Kollegin sehr viel Erzählerfahrung hat, wurde ihr vor dem Auftritt etwas mulmig. »Wie soll ich mir nur all das merken? Hoffentlich verliere ich den Faden nicht! Ich habe das Gefühl, ich habe alles vergessen . . .« Was ihr letztlich half, mit Selbstvertrauen auf die Bühne zu gehen und den Pinocchio ganz wunderbar und in seiner ganzen Länge zu erzählen, war allein die Konzentration auf das erste Bild der Geschichte und den dazugehörigen ersten Satz: »Es war einmal ein Stück Holz.« Aus diesen sechs Worten konnte sie dann Schritt für Schritt die ganze Geschichte des hölzernen Jungen zurechtschnitzen.
Das Erzählen nach Bildern funktioniert selbstverständlich nicht nur mit Märchen, sondern genauso mit Erzählstoffen aus dem Alltag. »Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen«, sagt der Volksmund. Wer von einer Reise erzählt, gestaltet einen Bilderfilm, der mit einer inneren Diaschau vergleichbar ist. Dieser Film braucht keineswegs mit der Abfahrt zu beginnen und mit der Rückkehr zu enden – im Gegenteil, das wäre ziemlich
langweilig. Eine Reisegeschichte lässt sich auf verschiedenste Weise nach Bildern ordnen und wiedergeben. Sie können z. B. mit dem schrecklichsten Urlaubstag beginnen oder vom schönsten Erlebnis berichten. Sie können das Essen am Urlaubsort als roten Faden wählen und erzählen, welche abendlichen Köstlichkeiten jeweils das Highlight des Tages waren. Oder Sie können – wie es eine Freundin mir einmal beschrieb – die täglich neuen Formationen der Handtücher im Hotelzimmer als Leitgedanken wählen. Diese wurden in jenem Hotel von den Zimmermädchen jeden
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