Der Hundeknochen
hatte.
»Auf der Feier bei Schillings hast du nur Wasser getrunken.«
»Dies ist der erste Alkohol seit vielen Monaten, ich vertrage keinen Alkohol, aber jetzt trinke ich noch mehr.«
Karla verzog den Mund. Sie machte keine weiteren Bemerkungen mehr, füllte nur noch das Glas nach.
Irgendwann, als die Flasche halb leer war, begann ich dann zu erzählen. Es wurde ein Selbstgespräch, teils Geständnis, teils Anklage, mit einem großen Schuß Selbstmitleid; alles in allem ein scheußliches Gewäsch.
Als ich einmal eine längere Pause machte, fragte sie vorsichtig: »War dieser Fitti Salm denn ein Freund von dir?«
»Er war ein Mensch in Not«, antwortete ich feierlich und fuhr in diesem salbungsvollen Ton fort: »Er hatte mich um Hilfe gebeten, und ich habe versagt, schlimmer als das. Versagen wäre ja zu entschuldigen, aber ich war feige, ich habe den erstbesten Vorwand genommen, um mich zurückzuziehen. Dreimal schlimm, ich habe auf diesen Vorwand nicht nur gewartet, nein, ich habe ihn sozusagen herbeigeführt, aus Feigheit, aus Bequemlichkeit, aus Schwäche. Ich bin auf diese Insel geflüchtet, statt in seiner Nähe zu bleiben und ihn zu beschützen.«
»Du sprichst wie ein Pfarrer nach einem Fehltritt.«
»So was ähnliches bin ich ja; ich bin Sozialarbeiter. Ach was!« winkte ich ab. »Ich bin ‘ne männliche Seelennutte.«
»Du bist betrunken, das ist es.«
Ich kippte im Zurückschaukeln den Inhalt des Glases in meine Kehle. Die Hälfte rann über mein Kinn. »Was ist das für ein Rachenputzer?«
»Hierbas, Anis mit Rosmarin und zehn weiteren Kräutern, eine Inselspezialität.«
Sie zog einen Stuhl heran, setzte sich rittlings und beobachtete mich mit aufgestützten Ellbogen. »Dein Freund oder Bekannter, dieser Fitti Salm, hat also Selbstmord begangen. Er hatte dir von seinen Absichten erzählt, wie Selbstmordgefährdete das oft tun, aber du hast ihn nicht ernst genommen. War es so?«
»Nein, ganz anders, er wurde…« Ich unterbrach mich, ein letzter Funken von Vorsicht ließ mich das Hintertürchen wählen, das sie mir gezeigt hatte. »Ja, doch, so ähnlich war es«, sagte ich heftig und schloß die Augen. Sie sollte nicht erkennen, daß ich sie anschwindelte. Ich bin schon in nüchternem Zustand ein schlechter Lügner; Alkohol bewirkt bei mir, neben anderen unangenehmen Begleitumständen, daß ich mich zu maßloser Ehrlichkeit hinreißen lasse und drauflos schwadroniere.
»Du wolltest nach Deutschland anrufen«, erinnerte sie mich nach einer Weile.
»Gut, bring mir bitte das Telefon.«
Sie hob die Schultern. »Ich habe nicht einmal Strom, und Wasser hole ich vom Brunnen.«
»Aufstehen kann ich jetzt nicht, bin zu besoffen, hast du selbst gesagt. Ich bin besoffen und egoistisch. Vor allem aber habe ich beruflich versagt. Jahrelang, hörst du, jahrelang habe ich auf einen richtigen Auftrag, oder sagen wir besser auf eine Aufgabe, jawohl auf eine Aufgabe, eine richtig runde, schöne Aufgabe gewartet, bei der ich mich beweisen könnte, kein Pippelkram; und als sie dann kam, diese Aufgabe, da habe ich versagt. Schau mich an, Schuhgröße 47, aber kein Mumm, kein Mumm, kein Mumm. So, und jetzt bring mich bitte zum Hotel!«
Sie stand auf, stellte sich hinter mich und legte ihre Finger auf meine Stirn. »Bei mir hast du ordentliche Arbeit geleistet, auch eine Art Sozialarbeit. Wenn du willst, kannst du hier bleiben«, sagte sie und legte ihr aufgelöstes Haar wie einen Vorhang über mein Gesicht.
25.
Ich lag auf dem Rücken und blickte zum Fenster. Einem gigantischen, langsam drehenden Ventilator ähnlich flappte das Licht des Leuchtturms vorüber. Ich zählte den Sekundentakt, wie es Seeleute tun, um zu wissen, um welches Leuchtfeuer es sich handelt. Wind bewegte die Ranken von Kletterpflanzen, die in die Fensteröffnung hineinwucherten, und aus den Blättern formte sich ein Gesicht. Sofort wußte ich, daß es Karlas Mann war, obwohl ich im Haus keine Fotografie von ihm gesehen hatte.
Grinsend zeigte er mir ein Küchenmesser, zog sich die Klinge über die Kehle und flüsterte: »Mit der stumpfen Seite besorge ich’s dir, du Dreckskerl. Doch vorher schneide ich dir noch die Klöten ab.«
Einem Schatten gleich huschte er durch die Fensteröffnung, wurde groß wie ein Bär und beugte sich über mich. Mit einem Ruck versuchte ich aufzustehen, schaffte es aber nicht. Denn unter mir war kein Widerstand, ich lag in rosaroter, klebriger Zuckerwatte, wie es sie auf der Kirmes gab. Mir kam
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