Der Hundertjaehrige der aus dem Fenster stieg und verschwand
schon ganz vergessen. Ich hätte den verfluchten Kerl gleich liquidieren lassen sollen, nachdem Julij Borissowitsch Popow das Rätsel verdienstvollerweise selbst geknackt hatte. Nun ja, vielleicht war er ja mitverbrannt. Freilich hätte er nicht gleich eine ganze Stadt mit in den Tod reißen müssen.
An der Tür zum Schlafzimmer teilte Stalin noch mit, dass er unter gar keinen Umständen gestört werden wolle. Dann schloss er sich ein, setzte sich auf die Bettkante und knöpfte sich das Hemd auf, während er überlegte.
Wladiwostok … Die Stadt, die Stalin zur Basis der sowjetischen Pazifikflotte auserkoren hatte! Wladiwostok … das in der bevorstehenden Offensive im Koreakrieg so eine wichtige Rolle spielen sollte! Wladiwostok …
Existierte nicht mehr!
Stalin konnte sich noch fragen, wie zur Hölle ein Container mit Armeedecken bei fünfzehn bis zwanzig Grad unter null überhaupt hatte Feuer fangen können. Irgendjemand musste dafür verantwortlich sein … und dieser Schuft … soll … soll …
Stalin fiel vornüber zu Boden. So blieb er volle vierundzwanzig Stunden mit seinem Schlaganfall liegen, denn wenn Genosse Stalin gesagt hatte, dass er nicht gestört werden wollte, dann störte man ihn nicht.
* * * *
Allans und Herberts Baracke gehörte zu den ersten, die Feuer fingen, womit die Freunde ihren Plan, darin heimlich ihre Uniformen anzuziehen, gleich vergessen konnten.
Doch der Lagerzaun war bereits eingestürzt, und da kein einziger Wachtturm mehr stand, war auch keiner mehr da, der ihn bewachte. Es war also gar kein Problem, sich aus dem Lager zu entfernen. Das Problem war vielmehr, wie es danach weitergehen sollte. Ein Armeefahrzeug konnten sie nicht stehlen, denn die standen samt und sonders in Flammen. In die Stadt zu marschieren, um sich dort ein Fluchtfahrzeug zu beschaffen, war ebenfalls sinnlos. Aus irgendeinem Grund brannte nämlich ganz Wladiwostok.
Die meisten Lagerinsassen, die das Feuer und die Explosionen überlebt hatten, blieben in kleinen Grüppchen auf der Landstraße stehen, in sicherem Abstand zu explodierenden Granaten und Panzerfäusten und diversen anderen Sachen, die immer noch munter durch die Luft zischten. Ein paar Glücksritter liefen davon, alle in nordwestliche Richtung, denn das war die einzige Richtung, die einem fliehenden Russen sinnvoll vorkam. Im Osten war Wasser, im Süden Koreakrieg, im Westen lag China, und direkt im Norden brannte gerade eine Stadt ab. Blieb nur noch der Weg direkt ins richtige, richtig kalte Sibirien. Doch die Soldaten rechneten sich das natürlich ebenso aus, und bevor der Tag um war, hatten sie die Fliehenden wieder eingefangen und allesamt in die Ewigkeit befördert.
Die einzigen Ausnahmen hießen Allan und Herbert. Ihnen gelang es, sich auf einen Hügel südwestlich von Wladiwostok zu retten. Dort rasteten sie kurz und betrachteten das Bild der Verwüstung, das sich ihren Augen bot.
»Diese Leuchtrakete hatte ja ganz schön Pfeffer«, meinte Herbert.
»Eine Atombombe hätte kaum gründlichere Arbeit leisten können«, meinte Allan.
»Was machen wir denn jetzt?«, wollte Herbert wissen. Ihm war so kalt, dass er sich fast nach dem Lager zurücksehnte, das nicht mehr stand.
»Jetzt, mein Freund, machen wir uns auf nach Nordkorea«, sagte Allan. »Da es weit und breit keine Autos gibt, müssen wir wohl zu Fuß gehen. Aber egal, das hält schön warm.«
* * * *
Kirill Afanassjewitsch Merezkow war einer der fähigsten und höchstdekorierten Kommandeure der Roten Armee. Unter anderem war er »Held der Sowjetunion« und nicht weniger als siebenmal mit dem Lenin-Orden ausgezeichnet worden.
Als Befehlshaber der vierten Armee kämpfte er bei Leningrad erfolgreich gegen die Deutschen, und nach neunhundert schrecklichen Tagen konnte die Belagerung der Stadt beendet werden. Kein Wunder, dass Merezkow zum »Marschall der Sowjetunion« ernannt wurde, zusätzlich zu all den Orden, Titeln und Medaillen, die er ansonsten bekommen hatte.
Als Hitler zurückgedrängt war, zog der Marschall Richtung Osten, neuntausendsechshundert Kilometer per Zug. Man brauchte ihn an der ersten Fernostfront, um die Japaner aus der Mandschurei zu verjagen. Man war nicht überrascht, als ihm auch das gelang.
Dann endete der Weltkrieg, und Merezkow war am Ende seiner Kräfte. Da in Moskau niemand auf ihn wartete, blieb er einfach im Osten. Dort landete er hinter einem Schreibtisch der Armee in Wladiwostok. Ein schöner Schreibtisch. Echt Teak.
Als der Winter 1953
Weitere Kostenlose Bücher