Der Hundertjaehrige der aus dem Fenster stieg und verschwand
Grenzbeamten die Hacken zusammen und salutierten stramm, dann taten die Nordkoreaner es ihnen nach. Ohne dass ein Wort gewechselt wurde, öffneten sich die Schlagbäume für den sowjetischen Marschall (Herbert) und seinen Adjutanten (Allan). Der besonders ergebene der beiden nordkoreanischen Beamten bekam ganz glänzende Augen, als ihm aufging, wie sehr sich diese Sowjetrussen doch persönlich engagierten. Korea konnte einfach keinen besseren Nachbarn haben als die sozialistischen Sowjetrepubliken. Der Marschall war bestimmt auf dem Weg nach Wonsan, um dafür zu sorgen, dass die Materiallieferungen aus Wladiwostok eintrafen und ordnungsgemäß weitergeleitet wurden.
Doch dem war nicht so. Dieser Marschall verschwendete keinen Gedanken an Nordkoreas Wohl und Wehe. Man kann nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob er wusste, in welchem Land er sich gerade befand. Er war vollauf damit beschäftigt herauszufinden, wie man eigentlich dieses Handschuhfach aufkriegte.
Von den Matrosen im Hafen von Wladiwostok hatte Allan aufgeschnappt, dass der Koreakrieg gerade zum Stillstand gekommen war und die Parteien sich jeweils auf ihre Seite des achtunddreißigsten Breitengrades zurückgezogen hatten. Das hatte er auch Herbert vermitteln müssen, der sich den Übertritt von Nord- nach Südkorea offensichtlich so vorgestellt hatte, dass sie einmal Anlauf nahmen und hinübersprangen – vorausgesetzt, dieser Breitengrad war nicht allzu breit. Es bestünde zwar das Risiko, meinte er, dass man noch im Sprung erschossen werde, aber das wäre ja auch kein Weltuntergang.
Doch nun, in etwa dreißig, vierzig Kilometern Entfernung von der Grenze, stellte sich heraus, dass der Krieg rundherum in vollem Gange war. Amerikanische Flugzeuge kreisten und schienen alles zu bombardieren, was ihnen vor die Linse kam. Allan kam zu dem Schluss, dass sie einen russischen khakifarbenen Luxus-Pkw wahrscheinlich als besonders attraktives Ziel betrachten würden, daher verließ er die Hauptstraße Richtung Süden (ohne vorher seinen Marschall um Erlaubnis zu bitten) und bog ins Binnenland ab, auf kleinere Straßen. Hier fanden sie auch schneller Deckung, wenn über ihren Köpfen wieder das Dröhnen der Flugzeugmotoren erklang.
Allan fuhr in südwestlicher Richtung weiter, während Herbert die Brieftasche des Marschalls, die er in der Innentasche der Jacke entdeckt hatte, durchging und ihren Inhalt laut kommentierte. Sie enthielt eine beträchtliche Menge Rubel, aber auch Informationen, wie der Marschall wirklich hieß, sowie Teile einer Korrespondenz, der man entnehmen konnte, womit er sich in Wladiwostok beschäftigt hatte, als die Stadt noch in besserer Verfassung war.
»Ich frag mich ja, ob er nicht sogar diesen Eisenbahntransport befehligt hat«, überlegte Herbert laut.
Allan lobte Herbert für diesen Gedankengang, der kam ihm wirklich klug vor. Da wurde Herbert wieder rot. Es war schon nicht ganz blöd, etwas von sich zu geben, was nicht ganz blöd war.
»Sag mal, glaubst du, du kannst dir den Namen von Marschall Kirill Afanassjewitsch Merezkow merken?«, erkundigte sich Allan. »Das wäre für die nächste Zukunft ganz praktisch.«
»Ich bin absolut sicher, dass ich das nicht kann«, meinte Herbert.
Bei Einbruch der Dämmerung bogen Allan und Herbert auf den Hof eines Bauernguts, dessen Besitzer einigermaßen wohlhabend sein musste. Der Bauer, seine Frau und ihre zwei Kinder umringten die hohen Gäste und das feine Auto. Adjutant Allan entschuldigte sich auf Russisch und Chinesisch dafür, dass der Marschall und er sich so aufdrängten, aber ob es wohl möglich wäre, dass sie etwas zu essen bekämen? Sie wollten auch gern bezahlen, allerdings könnten sie nur Rubel anbieten.
Der Bauer und seine Frau hatten kein Wort von Allans Ansprache verstanden. Doch ihr ungefähr zwölfjähriger Sohn lernte in der Schule Russisch und übersetzte für seinen Vater, woraufhin Adjutant Allan und Marschall Herbert sofort ins Haus gebeten wurden.
Vierzehn Stunden später waren Allan und Herbert bereit, ihre Reise fortzusetzen. Zuerst hatten sie mit dem Bauern, seiner Frau und den Kindern zu Abend gegessen. Es gab ein chili- und knoblauchinspiriertes Gericht aus Schweinefleisch und dazu – halleluja! – koreanischen Reisschnaps. Der schmeckte zwar nicht so wie der schwedische, aber nach fünf Jahren und drei Wochen unfreiwilliger Abstinenz war er mehr als befriedigend.
Nach dem Essen wurden der Marschall und der Adjutant bei der Familie einquartiert.
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