Der Hundertjaehrige der aus dem Fenster stieg und verschwand
das hinführen sollte.
Vor dem engsten Vertrauten und Sohn des Präsidenten hatte Allan ja behauptet, er käme mit einer wichtigen Botschaft von Stalin, und das erwies sich jetzt als eine sehr praktikable Ausrede. Nun konnte sich der falsche Marschall aus den Fingern saugen, was er wollte, Stalin war schließlich tot und konnte nichts mehr dementieren. Also beschloss Allan, Kim Il-sung die Botschaft zu übermitteln, dass Stalin ihm zweihundert Panzer für den kommunistischen Kampf in Korea schenken wolle. Oder dreihundert. Je mehr Panzer, desto mehr würde sich der Ministerpräsident freuen.
Die zweite Frage war da schon heikler. Allan war nur mäßig geneigt, nach Erfüllung seines Auftrags in die Sowjetunion zurückzufahren. Doch es würde sicher nicht leicht werden, Kim Il-sung dazu zu bringen, Allan und Herbert auf ihrem Weg nach Südkorea zu helfen. Und in Kim Il-sungs Nähe zu bleiben, würde bestimmt mit jedem Tag ungesünder, den die versprochenen Panzer nicht auftauchten.
Ob China womöglich eine Alternative sein konnte? Solange Allan und Herbert schwarzweiße Sträflingskleidung angehabt hatten, musste die Antwort Nein lauten, aber die hatten sie jetzt ja nicht mehr an. Seit Allan zum Marschall geworden war, hatte sich Koreas riesiger Nachbar von einer Bedrohung vielleicht in eine Verheißung verwandelt. Besonders, wenn Allan Kim Il-sung einen schönen Empfehlungsbrief abschmeicheln konnte.
Nächste Station also China. Und dann kam es eben so, wie es kam. Wenn ihm unterwegs nichts Besseres einfiel, konnte man ja immer noch ein zweites Mal über den Himalaya marschieren.
Damit erklärte Allan seine Überlegungen für abgeschlossen. Kim Il-sung sollte erst mal dreihundert Panzer bekommen, oder vierhundert – es gab ja keinen Grund, an diesem Ende zu sparen. Danach würde der falsche Marschall den Ministerpräsidenten untertänigst ersuchen, ihm mit einem Fahrzeug und Visa für die Reise nach China behilflich zu sein, denn er habe auch noch eine Botschaft an Mao Tse-tung zu überbringen. Mit diesem Plan war Allan vollauf zufrieden.
In der Abenddämmerung rollte das Sturmgeschütz mit den Passagieren Allan, Herbert und dem jungen Kim Jong-il auf ein Gelände, das auf Allan wie eine Art militärische Anlage wirkte.
»Meinst du, wir sind schon in Südkorea?«, fragte Herbert voller Hoffnung.
»Wenn es einen Ort auf Erden gibt, an dem sich Kim Il-sung nicht versteckt, dann wohl Südkorea«, gab Allan zurück.
»Ach so, nein, ist ja klar … ich dachte bloß … nein, gedacht hab ich wohl eher nicht«, räumte Herbert ein.
Dann blieb das zehnrädrige Sturmgeschütz mit einem Ruck stehen, und die drei Passagiere krabbelten heraus auf festen Boden. Sie waren auf einem Militärflughafen gelandet und standen jetzt vor etwas, was vielleicht ein Stabsgebäude sein mochte.
Der junge Herr Kim hielt Allan und Herbert die Tür auf und überholte sie rasch, um ihnen auch noch die nächste aufzuhalten. Damit war das Trio bis ins Allerheiligste vorgedrungen. Darin stand ein großer Schreibtisch, der unter Unmengen von Papier verschwand. An der Wand dahinter hing eine Koreakarte, rechts daneben stand eine Sitzgruppe. Auf dem einen Sofa saß Ministerpräsident Kim Il-sung, auf dem anderen sein Gast. An der Wand standen außerdem noch zwei mit MPs bewaffnete Soldaten in Habachtstellung.
»Guten Abend, Herr Ministerpräsident«, begann Allan. »Ich bin Marschall Kirill Afanassjewitsch Merezkow aus der Sowjetunion.«
»Der sind Sie ganz sicher nicht«, erwiderte Kim Il-sung ruhig. »Ich kenne Marschall Merezkow nämlich sehr gut.«
»Oje«, sagte Allan.
Sofort standen die Soldaten nicht mehr Habacht, sondern richteten ihre Waffen auf den falschen Marschall und seinen höchstwahrscheinlich ebenso falschen Adjutanten. Kim Il-sung war immer noch ganz ruhig, aber sein Sohn erlitt einen kombinierten Heul- und Wutanfall. Vielleicht zerfiel in diesem Augenblick das letzte Fragment seiner Kindheit zu Staub. Traue niemandem! Und er hatte sich auf den Schoß dieses falschen Marschalls geschmiegt. Traue niemandem! Nie, nie wieder würde er irgendeinem Menschen trauen.
»Du wirst sterben!«, schrie er Allan unter Tränen an. »Und du auch!« Das war an Herbert gerichtet.
»Ja, sterben werdet ihr«, sagte Kim Il-sung immer noch ganz ruhig. »Aber erst wollen wir herausfinden, wer euch geschickt hat.«
Das sieht ja gar nicht gut aus, dachte Allan.
Das sieht ja richtig gut aus, dachte Herbert.
* * * *
Der echte Marschall
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