Der Hypnosearzt
Opernpremieren oder Konzerte. Bei den musikalischen Anlässen lagen stets zwei Eintrittskarten im Kuvert.
Zunächst war Maria soviel Aufmerksamkeit unheimlich, bald jedoch hatte sie sich daran gewöhnt. Wann immer sie fragte, ob Monsieur Lindner in Genf sei, damit sie sich bei ihm bedanken könne, gab es die gleiche stereotype Antwort: »Herr Lindner dachte, daß Sie vielleicht Interesse an diesem Ereignis haben könnten. Er ist nicht hier, bedaure. Herr Lindner ist in Geschäften unterwegs …«
Zwei Jahre lang ging das so. Aus dem Mann mit der rotblonden Haartolle und den Strahleaugen, den Maria ein einziges Mal gesehen, der ihr ein einziges Mal die Hand geküßt und der von ihr dafür ein kleines Kaviarbrötchen bekommen hatte, war eine Art unsichtbares, mit überirdischen Kräften ausgestattetes Wesen geworden, das Kulturprogramme entwarf und für die Erweiterung ihres Bildungshorizonts sorgte.
Maria war jetzt vierundzwanzig.
Daß sie hinreißend aussah und eine große Anziehungskraft auf Männer ausübte, war ihr bisher nur als Nachteil bewußt geworden. Sie hatte von roten Köpfen und schmachtenden Blicken bis hin zu unverschämten, eindeutigen Angeboten so ziemlich jede Variante von Anmache und Werbung erlebt, zu der Männer fähig sind.
Aber was wollte Lindner, der Unsichtbare?
»Diesen Winter verbringe ich nicht am See«, eröffnete Maria ihrem Vater im November dieses Jahres. »Ich fahre nach Megève. Nicht zum Skilaufen. Dort werde ich malen.«
Ihr Vater reagierte, wie er in der letzten Zeit immer reagiert hatte. Für ihn war eine Frau, in erster Linie eine Tochter, dazu da, Anweisungen entgegenzunehmen und diese, ohne nach dem Sinn zu fragen, auszuführen. Die Anweisungen wiederum waren stets von seinem verbindlichen Botschaftsrat-Grinsen begleitet. In letzter Zeit bewies er dazu noch Anflüge von Senilität, wußte manchmal nicht einmal mehr, wieso er lächelte, brachte Dinge durcheinander, vergaß die Anlässe, für die er sich den Smoking hatte herauslegen lassen. Auf jeden Widerstand allerdings folgte prompt ein Wutanfall, auch dieses Mal wieder. Und als der Botschaftsrat merkte, daß das nichts half, sank er ächzend in einem Sessel zusammen.
Maria fuhr nach Megève. Und sie fuhr nicht allein. Inzwischen hatte sie Bella kennen und lieben gelernt. Megève lag knapp vierzig Fahrminuten von Genf in der Haute Savoie. Als sie den Ort und das gewaltige, etwas abseits gelegene Chalet sahen, dessen Gästeflügel Lindner zur Verfügung gestellt hatte, war klar: Hier bleiben wir! Und wir bleiben, solange dies nur irgendwie möglich ist …
Das waren zunächst sechs Wochen.
Drei Tage, nachdem die Silvesterraketen der Leute verpufft waren, die Megève im Winter bevölkerten und sich allein schon deshalb für reich und schön hielten, am dritten Januar also, morgens um halb zehn, Maria hatte sich gerade die Zähne geputzt und war in die Küche gegangen, um Kaffee zu kochen, öffnete sich die Tür: Thomas Lindner kam herein. Ziemlich erschöpft, mit kurzgeschnittenen Haaren und dem üblichen Strahlelächeln.
»Ich störe doch hoffentlich nicht?«
»Wie … wie bitte? Was?«
Der gläserne Kaffeebehälter fiel Maria aus der Hand, zerschellte am Boden, und die schwarzbraune Flüssigkeit kam auf seine schneeverkrusteten Schuhspitzen zu.
Lindner hatte sich einen Stuhl herangezogen, und da saß er nun, die Arme über den Knien hängend, die Schultern gekrümmt, den Kopf Maria zugedreht, das Gesicht blaß, mit rotgeränderten Augen. Ja, sein Lächeln war immer noch da, aber es hatte seine Wirkung verloren.
»Vier Wochen Kolumbien …« hatte er gemurmelt. »Die Hölle. Und dann noch die zwei Tage Flug …« Hunger hätte er auch. Ob sie ihm vielleicht ein Brot zurechtmachen könne …
Maria kochte neuen Kaffee, brachte Brot, Butter, Käse, tat es wie im Schlaf und dachte an Bella … Bella schlief meist bis in den Vormittag, Gott sei Dank …
Und vor ihr saß Lindner, ein Lindner aus Fleisch und Blut, kein abstrakter Name oder irgendeine anonyme Macht, darauf versessen, sie zufriedenzustellen oder gar glücklich zu machen, ein hungriger, zu Tode erschöpfter Mann, der Kaffee in sich hineinschüttete und Käsebrote verschlang.
»Da liebte ich ihn … Ich hätte mich auf seinen Schoß setzen und seinen Kopf streicheln können … Aber er wollte ja essen. Ja, und dann gab's noch Bella …«
Vielleicht, hatte Maria oft überlegt, vielleicht hatte Lindner eine Privatdetektei auf sie angesetzt. Das mochte
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