Der Hypnosearzt
und Oskar glaubt, er sei ein Löwe, und stemmt sich hoch und brüllt. Die Löwin aber …«
»Nein«, flüsterte sie. Sie begann zu zittern. Im Licht der Lampe glänzte Schweiß auf ihrer Stirn.
Angst, dachte Bergmann. Hoffentlich klappt sie dir nicht zusammen. Sie muß es hinter sich bringen, sie muß da durch. Also mach weiter.
»Der fühlt sich so groß, der Oskar«, sagte er.
»Das Schwein«, flüsterte Annemie Markwart. »Das Schwein.«
»Ja. Aber nicht mehr lange, Annemie. Hörst du das Geräusch? Dieses schreckliche, schlimme Geräusch, das den ganzen Zirkus ausfüllt? Das Knurren und Brüllen der Löwen ist es. Sieh dir die Leute an. Wie die alle starren. Jetzt springen sie auf. Sie schreien … Die haben auch Angst, Annemie, aber du brauchst keine zu haben. Du hast ja die Löwen. Der erste, der ganz große, schüttelt schon seinen Kopf, sieh, wie die Mähne fliegt. Und jetzt, Annemie, sieh doch, er duckt sich – und nun der Sprung! Ja, er springt Oskar an, wirft sich über ihn. Der Löwe ist so groß, so riesengroß, daß du den Oskar gar nicht mehr sehen kannst. Nichts siehst du, nur Blut, Annemie. Du siehst Blut.«
»Ja.« Sie schrie es. »So viel Blut …«
»Der Löwe, Annemie, der Löwe hat dem Oskar den Kopf abgebissen! Und die anderen Löwen sind jetzt alle über ihm. Alle reißen sie ein Stück Fleisch aus ihm, zerreißen und fressen, alle fressen ihn auf. Der Oskar ist weg, Annemie! – Sie haben ihn aufgefressen, da ist nichts mehr da, gar nichts mehr. Es gibt ihn nicht mehr, Annemie, er ist weg, verschwunden – fort für alle Zeiten …«
Ein schwarz gepunkteter roter, gemütlicher Marienkäfer kroch über Lindners Silberkästchen. Stefan Bergmann fing ihn ein, trug ihn in der hohlen Hand zum geöffneten Fenster und setzte ihn ins Freie. Über das letzte Stück der Heinrich-Heine-Straße rollte langsam ein grauer Wagen heran. Auf dem Dach trug er ein Blaulicht.
Okay, da waren sie also. Und Kommissar Warnke hatte sich sogar angemeldet.
»Ich bring Ihnen heute 'nen Kollegen mit, Doktor. Kommt vom BKA. Er heißt Oster und ist Kriminalrat.«
Stefan schloß das Fenster. Immerhin eine Premiere. Wann kommt schon ein ausgewachsener Kriminalrat vom Bundeskriminalamt in deine Praxis?
Draußen klingelte es bereits, und Stefan fühlte sich reichlich erschöpft, obwohl am Vormittag kaum etwas losgewesen war in der Praxis. Das Mittagessen hatte er im Stehen am Kühlschrank verschlungen, und nun gab's ein Verhör zum Dessert … Und das sollte einer gut finden?
Im Korridor ertönten Schritte. Bergmann ging zur Tür und öffnete sie. Warnke schaukelte herein, mit einem Grinsen, das wenig fröhlich war.
»Haben Sie diesmal 'n bißchen Zeit?«
»Aber ja«, nickte Stefan. »Es gibt so Tage, Herr Warnke, da scheinen sich alle Patienten zu verstecken.«
Der andere Besucher war einen halben Kopf kleiner als Warnke, aber er schien durchtrainiert und drahtig. Er hatte hellblaue Augen, und die langen, dunklen Wimpern gaben ihm etwas jungenhaftes. Dazu kam das schwarze Wuschelhaar. Der Typ sieht aus wie eine Mischung aus Sportlehrer und Discjockey, dachte Bergmann, trotz seiner fabelhaften ockerfarbenen Jacke und der eleganten, gelben Lederweste. Immerhin, er trug Jeans, und auf die Krawatte hatte er auch verzichtet.
»Dies ist Kriminalrat Oster«, stellte Warnke vor, und Stefan sagte, daß dies das erste Mal sei, daß er einem Kriminalrat begegne.
Dann saßen sie friedlich auf ihren Stühlen vor seinem Schreibtisch, Warnke leicht nach vorn gebeugt, die Hände auf den Knien, einen vagen Ausdruck von Verdrossenheit im Gesicht. Der andere, dieser Kriminalrat, hatte lässig die Beine übereinandergeschlagen. Das blanke Leder seiner Schuhe glänzte.
»Also, Herr Doktor«, begann Warnke, »der Herr Oster hier hätte noch ein paar zusätzliche Fragen.«
»Zu was?«
»Zu was? Uns geht's immer um dasselbe – um die Unglücksnacht an der Aussichtsplattform.«
Stefan spürte ein Prickeln im Nacken. »Das hab ich doch haarklein erzählt. Zweimal sogar. Das steht doch alles in Ihren Unterlagen.«
Oster zog den Jeansstoff über seinen Knien glatt und schenkte ihm einen langen blauen, direkten Blick unter seinen halb gesenkten dichten Wimpern. »So ist es. Aber ich wäre nicht hier, Herr Doktor, wenn es nicht auch die Aussage eines Rote-Kreuz-Fahrers gäbe, also eines der Leute, die Lindner in den Rettungswagen gebracht haben.«
Nun war es kein Kribbeln mehr im Nacken, nun war es der Griff einer Zange. Stefan
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