Der Hypnosearzt
Freunde aus Tinas Clique gekommen. Entweder waren sie in den Ferien, oder der Weg von Hannover aufs Land war ihnen zu weit, und so hatte Frau Rüttger nur die Kleinen aus dem Dorf eingeladen. Steppkes zwischen sieben und zwölf Jahren hüpften herum, heulten, schrien, und die Allerkleinste, das Baby, Tinas neue Schwester, hielt Frau Rüttger drüben auf dem Stuhl im Arm. Tina aber zog ihre Schnute.
Christa Bergmann streichelte den Säugling auf dem Schoß ihrer Schwägerin und legte die Hand auf den warmen kleinen flaumigen Kopf.
»Was ist denn mit der Tina?«
»Na was schon?«
»Eifersucht auf das Baby?«
»Ach was!« Doris Rüttger zog die Brauen hoch. Groß, blond und blauäugig war sie, eine Bilderbuchmutter, die etwas ungemein Irdisches, ja, Ländliches ausstrahlte, und vom Lande kam Doris auch: von einem Zweihundert-Hektar-Gut nördlich von Cell. Dies war auch der Grund, warum sie mit den Kindern die Ferien in der Mühle verbrachte. Doris haßte Hannover und flüchtete aus der Stadt, wann immer sich ihr die Gelegenheit dazu bot.
»Quatsch«, fuhr Doris fort. »Die Tina ärgert sich über ihren Freund. Die zieht jetzt ihre typische Tina-Schau ab.«
»Und was ist mit dem Freund?«
»Na, was schon? Der Tommi ist einer der wenigen, die in den Ferien zu Hause geblieben sind. Aber was tut er? Macht an ihrem Geburtstag bei einem Radrennen mit. Du kennst doch die Männer, Christa … Und da wir schon davon reden: hat sich Stefan endlich gemeldet?«
Christa schüttelte den Kopf. »Ich hab mir das überlegt, das kann er gar nicht. Er kennt nämlich die Telefonnummer der Mühle nicht. Sicher hat er zu Hause in Burgach angerufen, aber dort ist ja auch niemand. Und du weißt doch, wie er zu den Rüttgers steht. Nach all dem Knatsch, der da passiert ist, kostet es ihn einfach zuviel Überwindung.«
»Vielleicht …«
»Was vielleicht?«
»Vielleicht kann ich das sogar verstehen.« Doris sprach so leise, daß es kaum zu hören war. Das Baby hatte seinen Schnuller verloren und quengelte, dort drüben brüllten die Kinder und marschierten im Kreis, und die Musik spielte. Tina saß in der Hollywood-Schaukel. Doris holte den Schnuller aus dem Gras und steckte ihn ihrer neugeborenen Tochter entschlossen in den Mund.
»Ich versteh dich nicht, Doris.«
»Weißt du, Christa, manchmal komme ich mir in eurem Familienverband genauso fremd vor wie Stefan. Und manchmal wünsch ich mir, ich hätte überhaupt keine Kinder.«
»Nachdem du dich nach vierzehn Jahren dazu entschlossen hast, noch ein Baby zu bekommen?«
»Vielleicht gerade deshalb. Du kennst doch deinen Bruder.«
Christa schwieg. Ja, sie kannte Jürgen. Jürgen, der Hochbegabte, Jürgen, der Brillante, der Erfolgsmensch … Dieser Egoist hatte also wieder mal eine Affäre angefangen …
Vielleicht konnte er einfach keine Haut mehr sehen, vielleicht war es die Berufskrankheit eines Dermatologen. Wahrscheinlich aber sah er einfach nur zuviel Haut, zumindest zuviel von der einer Vierzigjährigen.
Am liebsten wäre Dr. Jürgen Rüttger von dem Bett geflüchtet. War das überhaupt ein Bett? Schon eher wohl ein blausamtenes Trampolin im Kingsize-Format, raffiniert beleuchtet von eingebauten Halogenstrahlern, die Jürgen ein überreiches Angebot präsentierten: einen weißen Frauenkörper, die Schenkel geöffnet, mit schwellenden Linien und Kurven. Bei den Brüsten hatte wohl Silikon ein wenig nachgeholfen, das Resultat war dennoch phänomenal. Die Warzen benötigten keine Korrektur, erregt reckten sie sich Jürgen Rüttger entgegen, während bei ihm …
»Was ist bloß los mit dir, Jürgen?«
Ja, was?
Jürgens Blicke klammerten sich noch immer an dem Ambiente fest, als käme von dort Hilfe: Dunkelblau auch der Fußboden, ein Fußboden mit Schaumgummi-Unterlage versteht sich, so weich und tief, daß man das Gefühl hatte, bis zum Knöchel in Velour zu versinken – oder im Morast. Chromblitzende Designer-Möbel, Chromleisten auch um die an den strategisch entscheidenden Stellen angebrachten Spiegel. Selbst an der Decke über dem Bett gab's so ein Ding, dabei war Jürgen all das, was da beleuchtet und bespiegelt wurde, seit fünf Wochen bis zum Überdruß vertraut.
So richtig schlimm aber war's eigentlich erst seit der letzten Woche geworden, seit nämlich die Ferien begonnen hatten.
»Komm, Jürgen«, gurrte es vom Bett. »Nun komm doch schon …«
Ganz unvermittelt war Dr. Jürgen Rüttger heilfroh um die Unterhose, die er noch trug, denn schließlich – all
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