Der Hypnosearzt
Ohr. Aber die war grauenhaft.«
»Schade.« Er lächelte.
»Aber Sie haben eine Kleinigkeit vergessen: die Hypnose.«
»Alles hängt nun einmal zusammen.« Er betrachtete wieder die Olive in seiner Hand. »Nehmen wir einmal an, das sei ein Gehirn. Alles, was an Reizen über die Nervenbahnen hereinkommt, wird ja nicht nur analysiert, geprüft und zu einem Sinnes- oder Gedankeneindruck umgebaut, es wird ein weiterer Filter vorgeschaltet: das Gedächtnis mit seinem ganzen riesigen Speicher von Erfahrungen und Erinnerungen an erlebte Situationen. Einen Apfel sehen Sie zwar, aber Sie können ihn nur aufgrund einer Lernerfahrung erkennen, die bis weit in Ihre Kindheit zurückreicht. Diese Lernerfahrung ist das Entscheidende, denn sie ist mit allem verbunden, was uns begegnet – im Guten oder Schlechten. Darauf beruht auch die ganze Psychologie …«
»Und die Hypnose?«
»Auch. Unter anderem. Wir brüllen oder heulen vor Verzweiflung und Schmerz, wir lachen und sind selig aus Freude. Freude und Schmerz aber finden im Kopf statt, im zentralen Nervensystem. Es ist wie mit dem Bild von zuvor: Nicht die Reizleitungen sind es, die zum Beispiel Schmerz empfinden, nicht der verbrannte Finger ist es, der Schmerz wird im Gehirn erzeugt. Nur dort. Und das Gehirn ist es auch, das über seine Anhangsdrüse weitere Systeme einschaltet, zum Beispiel das Hormonsystem, das Reaktionen über die Blutbahn steuert: Schmerz, schlimmer Schmerz, unerträglicher Schmerz, Ohnmacht … Die Muskeln verkrampfen sich zunächst aus Abwehr, sie drücken auf den Nerv, die Situation steigert sich zur Attacke, zur Unerträglichkeit. Die Ohnmacht bringt Entspannung.«
Marias Mund hatte sich geöffnet, die Unterlippe war zwischen die weißen Zähne geklemmt, die Augen waren sehr schmal und überaus aufmerksam.
»Und Sie sagen: ›Drei, zwei, eins – voilà – weg damit.‹ Da braucht es keine Ohnmacht?«
Die Salontür hatte sich geöffnet. Lindner erschien.
»He, was ist, ihr zwei? Wir haben es hinter uns.«
»Gleich, Thomas. Stefan erzählt gerade ungeheuer interessante Geschichten.«
»Über was?«
»Über das, was in unseren Köpfen vorgeht.«
»Bloß nicht.« Lindner wandte sich an den Dunkelhaarigen und befahl ihm: »Kümmere dich um den Anker! Und sag Raoul, wir fahren zurück!«
Maria war auf dem Stuhl nach vorn gerutscht, saß auf der Kante, der Wind blies ihr die Haare aus dem Gesicht. » Voilà – und weg! Da waren wir doch stehengeblieben.«
»Das waren wir. Und daß so etwas gar nicht schwierig ist, beweist die Tatsache, daß es selbst im Fernsehen Hypnotiseure gibt, die auf diese Weise arbeiten. Wenn ich einem bedrängten Nerv Erleichterung verschaffe, brauche ich nur eines, und das so schnell und so gründlich wie irgendwie möglich: Entspannung. Entspannung aber ist auch eine Grunderfahrung, ein existentielles Grundgefühl: ein Säugling an der Mutterbrust, ein Kind, das lacht und sich dehnt …«
»Aber diese Entspannung läßt sich doch nicht herbeikommandieren?«
»In Hypnose schon. So wie fast alle Gefühle.«
»Und wie …«
Er steckte die Olive endgültig in den Mund, stand auf, ging zur Bordwand und spuckte den Kern ins Wasser. Maria aber blieb noch immer auf ihrem Stuhl und sah Bergmann erwartungsvoll an, als er sich umdrehte.
»Wie, Stefan?«
»Oh, das ist relativ einfach. Man muß nur ein bißchen Übung haben. Indem Sie den anderen dazu bringen, daß er das Jetzt, die Umgebung, die dazugehört, und damit die eigenen Sinneseindrücke nicht mehr richtig wahrnimmt und kontrolliert.«
»Und wie?«
»Ganz einfach. Sie müssen verstehen, ihn abzulenken, so weit abzulenken, daß es zu einer Trennung kommt.«
»Zu welcher Trennung?«
»Zur Trennung von sich selbst. Ich meine jenes Selbst, das in der aktuellen Situation verankert ist, in der der Mensch sich befindet. Man spricht vom Bewußtsein, wenn die Ereignisse, die wir aufnehmen, in Sprache und Erfahrungsinhalte umgesetzt werden. Wenn ich aber diese Trennung bei einem Menschen erreiche, habe ich Zugang zum entscheidenden Bereich seiner Psyche, dem Unterbewußtsein, und das ist so etwas wie die Festplatte im Computer. Alles, was je in seinem Leben geschah, alles, was ihm widerfuhr, alle Erinnerungen, alle Programme, die ihn steuern, alles Erlebte und Gelernte, aber auch die Gefühle, die es begleiten, liegen hier gespeichert.«
»Und es liegt für Sie offen? Unglaublich! Und das heißt?«
»Das heißt, daß man hier eingreifen kann, löschen,
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