Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)

Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Liebert
Vom Netzwerk:
fünfzigtausend Franc unabhängig. Fahre einfach in den Süden, ans Meer. Nach Italien, Sizilien.
    Lebe! Und was dein Verhältnis zu Marie-Thérèse betrifft: Sprich bei ihr vor und söhne dich mit dem Abbé aus. Selbst wenn sie dir dabei sagt: Petrus, es ist vorbei - ein Ende mit Schrecken ist allemal besser als ein Schrecken ohne Ende.
    Derart gelaunt verFasste ich eine neue Entschuldigung. Da ich wusste, dass Marie-Thérèse wieder auf Konzertreise war, gab ich den Brief bei der Firma Érard ab, mit der Bitte, ihn nach London an Marie-Thérèse` Adresse weiterzuleiten. Damit glaubte ich, das mir Mögliche getan zu haben, und konnte mich der Hoffnung hingeben, eine Antwort zu bekommen. Hatte sie mir zuvor die Hand zur Versöhnung ausgestreckt, war ich es jetzt, der es ihr gleichtat – ganz so, wie es sich für einen ehrenhaften Kavalier auch geziemte.
    Die Wartezeit verstrich in süßem Nichtstun und ausgiebigen Spaziergängen. Ich ließ meine Gedanken schweifen und genoß das vorfrühlingshafte Knistern der Wiesen hinter den Champs-Élysees. Nicht ohne Sehnsucht dachte ich an das Gut in Ehnheim, meine Heimat, die Vogesen, Wälder und Berge. Bald begann ich mich nach den Düften von Dung und Heu zu sehnen, vermisste die Ruhe der Kuhställe und das gemütliche Grunzen von Ferkeln und Sauen. Ich ließ mir den Wind um die Nase wehen, streichelte Hecken und Bäume und schaute, auf Meilensteinen hockend, sinnend in die Weite.
    Gehen ist die vollkommenste Selbsthypnose, dachte ich. Es ist wie eine lebenslange Trance unseres Körpers, über den wir fast nie nachdenken. Wir meinen, uns all seiner Fähigkeiten so sicher sein zu können, wie wir glauben, dass am nächsten Tag wieder im Osten die Sonne aufgeht. Wenn wir rennen, vertrauen wir blindlings dem Steuerungsappart in unserem Kopf, den Nerven, Muskeln, Sehnen, dass wir augenblicklich stolperten, würden wir darüber nachdenken, wie sie sich an- und entspannen, um uns vorwärts zu treiben. Ich erinnerte mich an meine Studienjahre in Strasbourg, die anatomischen Studien in der Pathologie. Auf dem Seziertisch hatte die Klinge mir den Menschen als genial konstruierten und perfekt gepackten Weichteil-Apparat erschlossen: Knochen sahen aus wie Drechselwerk, wie Säulen, Bögen, Schaufelblätter. Die Muskeln darüber glichen einem verwirrenden Kreuz-und-Quer-Geflecht roter Bänder, die verbrauchten, was die unverwechselbaren Fabriken von Leber, Milz, Magen, Eingeweide, Nieren schufen. Ihre Architektur war so mannigfaltig wie die Festigkeit und Farbe ihres Gewebes: weicher das eine, röter, grauer, fahler das andere. Ihre festen Umrisse kontrastierten zum Rückenmark, das sich als glibbriger Strang gefiel, verwandt den Nerven, die sich als unsägliches Geästel von dicken und dünnen Seidenfäden dann und wann zu polypischen Knäueln zusammenfanden. Ähnlich bizarr nahmen sich die traubigen Drüsen aus - und alles war mit dem mal feinen, mal grobwandigen Kraken-Geschläuch der Adern verknüpft.
    »Und dann das Herz, meine Herren! Das mächtigste und leistungsfähigste Organ, aber auch das sensibelste und verwundbarste. Wenn es tausend mal tausend mal tausend Mal geschlagen hat, sind Sie ungefähr zweiunddreißig Jahre auf der Welt. Doch eine kleine Verstopfung oder zarter Stich nur genügen, diese rätselhafteste aller Pumpmaschinen aus dem Takt und unsere Wenigkeit ins Fegefeuer zu bringen.«
    Die Worte meines Straßburger Pathologieprofessors waren zehn Jahre alt, mir jedoch stand die Anatomiestunde auf einmal im Gedächtnis, als sei sie gerade eine Woche alt. Ich sah den nach der Art einer antiken Arena gehaltenen Lehrsaal vor mir, in dessen Zentrum der mächtige Marmortisch stand und erinnerte mich an die in Sackleinen eingeschlagene Leiche, deren Kopf mit einer Kapuze geschützt war. Der damals sezierte Körper gehörte einem Bettler, der wegen einer Flasche Wein von einem anderen im Schlaf mit einem Stilett umgebracht worden war. Eine winzige violett-blaue Verfärbung markierte die Einstichstelle, ein kaum auszumachender Schnitt, der durch die Herzkammer hindurch bis in den Hohlraum reichte.
    Es kann kein Zufall sein, dass dir dies jetzt wieder einfällt, dachte ich. Schließlich harrte der Mord an Ludwig noch immer der Aufklärung. Auch ihn hatte ein gezielter Stilettstich ins Herz ums Leben gebracht, und genauso wie bei dem Strasbourger Bettler war der Stoß von hinten geführt und das Herz dabei bis in die Höhlung zerschnitten worden.
    Nach wie vor gab es keinen

Weitere Kostenlose Bücher