Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
wieder etwas gilt. Was soll denn ich sagen? Ich bin das Kind kleiner Leute, schwindsüchtig, lebe von einer mageren Rente und dem Zubrot meines Berufs und muss mich doch auch damit abfinden, dass mir statt Liebe nur die Schwärmerei bleibt. Himmel! Wenn alle Frauenzimmer sich wegen so etwas gleich den Tod machen würden, wo käme dann die Menschheit hin?«
Ihre Worte bewirkten, dass ich die Kraft fand, mich vom Stuhl zu erheben. Madame Berchod stützte mich auf meinem Weg ins Schlafzimmer. Langsam, wie ein verwundeter Krieger setzte ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen, während die Concierge mich mit der Linken an der Hüfte stützte und gleichzeitig schob. Ich wusste, dass Madame Berchod seit meinem für sie gebrauten Täßchen „L´eau héroïque“ ein wenig für mich schwärmte. So romantisch ihre Zuneigung war, so sehr war sie darauf aus, mir nahe zu sein, weswegen sie in der Weihnachtszeit auch aus dem Backen nicht mehr herausgekommen war. Alle drei bis vier Tage bekam ich einen neuen Teller mit Weihnachtsgebäck verehrt; Madame Berchods Plätzchen waren nicht nur gut gewürzt, sondern auch ein klein wenig salzig ...
Im Schlafzimmer sank ich auf die Bettkante und schlug die Hände vors Gesicht. Minutenlang saß ich so da, konnte nichts denken und hatte nur den einen Wunsch: nicht mehr sein, nie wieder fühlen und empfinden. Stattdessen aber hörte ich, wie Madame Berchod sich in der Stube am Buffett zu schaffen machte. Merkwürdigerweise empfand ich es angenehm, darauf zu achten, wie sie Schubladen und Türen öffnete, ein Glas fand und schließlich eine Flasche Rotwein entkorkte. Ich hörte, wie der Wein ins Glas plätscherte - und wartete, bis Madame Berchod mir das Glas hinhielt.
»Schenken Sie sich auch ein«, flüsterte ich.
»Was ich mir nicht zweimal sagen lasse«, bekam ich geradezu fröhlich zur Antwort. Sie eilte zurück ans Buffet und kam mit einem randvollen Glas zurück. »Auf Ihr Wohl, Monsieur Cocquéreau!« Ich nickte und trank mein Glas in einem Zug leer. »Das schaffen wir schon.« Madame Berchod wollte es mir gleich tun, doch dabei verschluckte sie sich, begann zu husten und musste sich die Augen wischen.
»Hören Sie einfach nur zu«, entgegnete ich und wartete, bis sie mein Glas wieder gefüllt hatte. »Falsche Erfolge. Wohin ich auch schaue: Meine Gabe ist weit mehr Fluch als Segen. Esther Soulé musste sterben, weil ich mir anmaßte, ihren Bruder mit suggestiven Nutzbildern heilen zu können. Im Bordell bekam ein Mädchen aufgrund einer eigennützigen Suggestion einen hysterischen Anfall, die Comtesse erlag einer ihr suggerierten Traumwelt. Ich habe den Zeitpunkt ihres Todes gefühlt, Madame Berchod. Und ob Sie es glauben oder nicht: Ich habe Hélène Comtesse de Carnoth gestern nach mir rufen hören. Also ist es jetzt auch keine Einbildung mehr, mit der Ahnung leben zu müssen, dass eine ehemalige Patientin möglicherweise ihr noch ungeborenes Kind umbringen wird. Und die anderen Suggestionen? Hypnosen? Fast alles nur Skurillitäten! Sie gipfeln am Canal St. Martin, wo ich einen Halbwüchsigen die Wunden seines Hundes lecken lasse.«
»Ich verstehe Sie.« Madame Berchod hüstelte und trank ihren Wein. Um sich zu sammeln, nickte sie ein paar Mal und wischte sich mit einem ihrer Tücher die Mundwinkel. Ich schaute sie flehend an, in der unsinnigen Hoffnung, sie würde wirklich Worte finden, die mich entlasteten. Meine Verzweiflung war grenzenlos. Trotzdem empfand ich es wie ein Wunder, dass diese einfache, schwindsüchtige Frau in diesen Stunden an meiner Seite war.
»Wenn ich sage, dass ich Sie verstehe, Monsieur Cocquéreau, dann deshalb, weil auch ich ein Mensch bin, der wie Sie ein zu weiches Herz hat. Unsereins macht sich immer Vorwürfe, wenn etwas nicht so gelingt oder sich auszahlt, wie wir es uns erhofft haben. Sie meinen, sich Ihrer Gabe schämen zu müssen, meine Wenigkeit hadert mit der Krankheit. Schwindsucht habe ich und war vor zwanzig Jahren so gutherzig, dies meinem Geliebten zuzugeben. Darauf löste er die Verlobung. Aber was tat ich? Anstatt daraus zu lernen, mithin, die Welt zu betrügen, verdoppelte ich meine Anstrengungen, gut zu sein. Mit zunehmendem Gehuste wuchs mein Ehrgeiz, mir mittels guter Werke Bestätigung zu holen: Ich führte einem siechen Priester den Haushalt, verdingte mich auf dem Dorf als Hebamme für die armen Kleinhäusler, pflegte Waisenkinder. Gut zu sein, ja, daraus bezog ich meine Kraft und meinen Stolz. Ihnen sage ich auf den Kopf
Weitere Kostenlose Bücher