Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)

Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Liebert
Vom Netzwerk:
zu, dass es ebenso um Sie steht oder stand. Aber warum sind wir so? Weil wir Schuldgefühle haben. Wir wissen, dass wir einmal einen Fehler gemacht haben, wollen uns zu diesem jedoch nicht ehrlich bekennen. Vor lauter schlechtem Gewissen darüber, wollen wir zum Ausgleich immerzu lieb, gut, anständig, hilfsbereit und moralisch sein. Und wenn wir´s mal nicht sind, dann haben wir das Gefühl, minderwertig und überflüssig zu sein. Ihren Fehler müssen Sie selbst herausfinden, Monsieur Cocquéreau. Meiner war es, mich als junges Mädchen gegen meinen Willen auf ein Techtelmechtel einzulassen. Die Fehlgeburt lastet bis heute als Sünde auf meinem Gewissen, noch mehr aber peinigt mich, dass mein damaliger Liebhaber so hart zur Rede gestellt wurde, dass er das Dorf verließ und nach Amerika flüchtete. Bis heute hat er nichts von sich hören lassen. Sollte ihm Unglück geschehen sein, dann lag es an meiner weibischen Hitze, der ich damals nachgab. Die Bibel hat recht, wenn sie von der Ursünde der Frau spricht, nicht wahr? So ist es wohl eben.«
    Madame Berchod wischte sich die Augen und lächelte. Sie habe dies noch niemandem erzählt, setzte sie hinzu, aber doch das meiste bereits mit sich ausgemacht. Bis zum Ende ihres Lebens hoffe sie, darüber endgültig mit sich ins reine gekommen zu sein.
    Ich war wie verzaubert. Die Frage, die ich ertragen und über mich aufrichten musste, nämlich, ob diese einfache Frau die Wahrheit gesprochen hatte, war so einfach wie die Antwort klar: Ja, Madame Berchod hatte recht. Auch wenn diese Concierge keine Prophetin war und ihr Bekenntnis nur eine schlichte Beichte: Madame Berchod war der Wahrheit und der Wirklichkeit meines Lebens nähergekommen als irgend jemand anders in der Welt. Ein Gefühl von Trunkenheit und Nüchternheit überkam mich, ein Zustand zwischen tiefem Traum und noch tieferem Erwachtsein. Ich schmeckte Bitterkeit und Süße, spürte Leichtigkeit und schwere Last auf meinen Schultern. Ich erhob mich, setzte mich, stand ein zweites Mal auf und sackte doch wieder zurück auf die Bettkante. Trägheit und Aufbuch, Licht und Schatten hielten meine Seele wie ein engmaschiges Netz gefangen – doch nun war der Zeitpunkt gekommen, wo ich mir endlich den Ruck geben musste, dieses Netz zu zerreißen, um mich zu einem befreiten Leben zu erwecken.
    Madame Berchod griff nach ihrem Glas, ich tat es ihr nach. Aug in Aug tranken wir aus, darauf erhob ich mich mit einem Ruck und trat ans Fenster. Wie schon so oft erblickte ich die vier graubraunen Katzen, die auf den Simsen von der Wärme der undichten Fenster profitierten. Sie hielten die Augen geschlossen, doch nach einer Weile begannen sie zu blinzeln, und plötzlich, wie auf Kommando starrten sie mich an, lauernd und doch auch, wie ich fand, wissend. Bist du bereit? schienen die Augen zu fragen, bist du endlich bereit, dich wie ein Kavalier zu halten und dich der bis an die Wurzeln deines Lebens reichenden Gespaltenheit zu stellen? Denn immer ist das eine da und wahr und das andere auch: dein weiches Herz und deine Liebe zu Juliette, aber auch dein Hass auf den Abbé und deine Schuld an Juliettes Tod.
    »Meine Schwester und ich wurden früh Waisenkinder«, begann ich zu erzählen, »weshalb wir ein inniges Verhältnis zueinander pflegten. Juliette war ein hübsches Ding, drei Jahre älter und mir in allem überlegen. Wäre sie als Junge zur Welt gekommen, wäre sie heute Minister. Das einzige, was sie nicht besaß, war meine suggestive Begabung, die im übrigen ein Geheimnis zwischen uns beiden bleiben sollte. Bis Juliette eines Tages vor ihrer Freundin Ragna damit prahlte. Ragna natürlich wollte ihr nicht glauben. Ich also trat an, den Beweis zu erbringen, und probierte, Ragna zu suggerieren, sie käme bei der Lektüre der ersten Verse der Genesis nicht über den Satz hinaus: ‚Und es ward Licht.’ Nun - die Gute war nicht suggestibel. Juliette und mir waren Hohn und Spott sicher, worauf Juliette mich mit Verachtung strafte. Ich selbst litt unter meinem Versagen und wartete auf die Gelegenheit, die Scharte auszuwetzen. Bald war es soweit. Juliette verguckte sich auf einem Weinfest in einen Studenten namens Julienne. Der jedoch zeigte ihr die kalte Schulter, hingegen er lieb zu ihrer Freundin Ragna war. Leider aber bekam Juliette diesen Halunken nicht aus dem Kopf. Sie verfiel ihm, der die Ausstrahlung eines Phallus auf zwei Beinen hatte, sich aber den Spaß machte, jedes Weib, auch Ragna, auf Distanz zu halten. Julienne

Weitere Kostenlose Bücher