Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
unverwechselbar erdig war sein Lächeln. »Als Tatverdächtiger zu beginnen, als Besucher zu reüssieren und sich dann zum Opfer zu mausern: Das hat Stil.«
»Was ist denn die erstrebenswerteste Stufe?«
»Als Gedächtnisfall zu enden. Was bedeutet: Von uns zu unseren Lebzeiten nicht vergessen zu werden.«
»Was hieße, diejenigen Fälle, die in der einen oder anderen Weise mit dem Tode enden, bleiben am besten im Gedächtnis?«
»Sie sagen es.«
»Halt die Schnauze, Aché!«
Eine derart entwaffnende Deutlichkeit hätte ich Kanzlist Boucicaut, einem doch eher sturen Pykniker, nicht zugetraut. Wahrscheinlich aber pflegte hier unten jeder seine ganz persönliche Art von Schrulligkeit - ganz einfach, weil es auf die Dauer die Seele krank machen musste, einen Arbeitsplatz zu haben, der eine muffige Steinhölle war und etliche Stufen unterhalb der Quais lag. Dann der ständige Blick auf die düsteren Krypten, die zu den Kerkern führten! Dort unten gluckste und schwitzte das Mauerwerk vom Seine-Wasser, und Gerüchte besagten, auf dem rauhen Quaderboden lägen noch immer etliche faulige und blutige Strohhalme aus der Zeit der Revolution.
Meine Karte in der Hand, winkte mir Albert Joffes Sekretär zu, und ich war wieder einmal heilfroh, diese Gruft verlassen zu dürfen. Über die selbe Treppe, auf der Comte de Carnoth und ich einst Untersuchungsrichter Roland folgten, ging es aufwärts. Albert Joffes Büro jedoch lag nicht unter dem Dach, sondern in dem Gefängnisinnenhof mit seinen byzantinischen Rundbögen. Entweder war es zu spät oder noch zu früh, jedenfalls hatte ich nicht das Vergnügen, Häftlinge beim Rundgang beobachten zu können.
»Schade.«
»Ich kann Ihnen versichern, es ist ein trauriger Anblick«, begann Albert Joffe unser Gespräch. »Zum einen schleicht so ziemlich jeder im selben Säuferwalzer-Schritt, zum anderen sind alle Gesichter so vergraust und verbittert, dass man jedem ehrlich wünscht, er möge unschuldig sein. Freude gibt es nicht. Es wird nicht gelacht, nicht gesprochen. Jeder misstraut dem anderen, und wenn sich doch einmal sogenannte alte Bekannte treffen, geben sie sich nach einem flüchtigen Händedruck eine derbe Kopfnuß, was soviel heisst wie: ‚Idiot, du, warum hast du dich schnappen lassen.’«
»Ob Baron Philippe und Abbé de Villers sich auch so eine Kopfnuß verpassen würden?«
Ohne auf meine launige Frage einzugehen, klingelte Albert Joffe nach seinem Sekretär, der übrigens, was Größe und Stattlichkeit betraf, gut mit seinem Chef harmonierte.
»Wie weit sind die Nachforschungen im Fall Cocquéreau, Félicien?«
Der Sekretär trat an den Schrank und probierte erst einmal ein halbes Dutzend Schlüssel aus. Solides Möbel, dachte ich. Schmucklos, aber deckenhoch und steht so versonnen an der Wand, als sei es stolz darauf, die Übelstände Hunderter Existenzen vor dem Licht der Welt zu beherbergen.
»Einen Calvados, Monsieur Cocquéreau?«
»Gern.«
Félicien schien nicht nur der Verweser dieses Aktenschranks zu sein, sondern auch der Hüter der Calvadosflasche, die sich samt Tablett und Gläsern darin befand. Er schenkte zwei Gläser ein, servierte mir eins davon, machte aber keine Anstalten, das andere seinem Chef anzubieten.
»Auf Ihr Wohl, Monsieur Cocquéreau!« Albert Joffe seufzte und schloss die Augen.
Félicien hob sein Glas und trank es in einem Zug aus. Monsieur Joffe wolle es so, klärte er mich auf und schenkte mir noch einmal nach, sich selbst aber nicht.
»Und warum?« warf Albert Joffe dazwischen. »Ganz einfach, weil ich ein Problem mit geistigen Getränken hatte. Félicien schlug als Therapie vor, mich in ständiger Versuchung zu halten, abgemildert durch den Entzug der Schrankschlüssel. Verstehen Sie?«
»Ich bewundere Sie für Ihre Offenheit.«
»Ein Kommissar mit Fahne, weißer Haut und violettem Kolben ist noch lächerlicher. Im übrigen werden auch Sie mir zustimmen: Stärke zeigt, wer Schwächen eingesteht. Die passende Überleitung, um uns Ihrem Fall zuwenden zu können.«
Damit reichte er mir einen Bericht, der das wiedergab, was Jeanne zu Protokoll gegeben hatte. Ich nickte, gab an, dem nichts hinzufügen zu können, was Albert Joffe auch nicht anders erwartet hatte. Die Gründe, so Joffe, warum Baron Philippe oder Abbé de Villers es auf mich abgesehen haben könnten, seien ihm einsichtig. Beide fürchteten, ihren EinFluss auf die Künstlerin Marie-Thérèse zu verlieren, was der Besuch bei Baron Philippe eindringlich
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