Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
sagte sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Was wollen wir also dort? Außerdem sitzen im Rocher de Cancale immer irgendwelche Kunden. Heute mag ich keinen von ihnen sehen. Warum wollen Sie also mit mir dorthin?«
Sie schaute mich plötzlich ganz seltsam an und trat an einen der Café-Ausschank-Tresen, um sich mit einem Glas Zuckerwasser zu stärken. Schluck für Schluck trinkend, begann sie zu zittern, dann schrie sie erschrocken auf, und das Glas entglitt ihren Händen. Ich konnte sie noch auffangen, andere Gäste schoben ihr einen Stuhl zu. Jeder führte Jeannes Schwächeanfall auf das Wetter zurück: Es sei zu schnell zu warm geworden, einfach zu viel für eine so anmutig konstituierte Dame.
Ich lächelte, dankte. In Wahrheit war ich besorgt. Indem Jeanne darüber zu grübeln begann, warum ich mit ihr in einem Restaurant Fasan essen wollte, das für Meerespezialitäten berühmt ist, schien sich ihre Trance zu verflüchtigen. Eine Erklärung fand ich schnell: Ich hatte ihr nur suggeriert, mit ihr zu flanieren und zu essen. Aber dies war offensichtlich zu wenig. Denn Jeannes Wunsch, mich für sich zu haben, war damit nicht ruhiggestellt, sondern nur vorrübergehend von der Reizflut einer suggerierten Fasan-Rezeptur überlagert.
Alles meine Schuld.
Jeanne kam zu sich und atmete erst ein paar Mal tief ein und aus, bevor sie die Augen öffnete.
»Himmel! Jetzt weiß ich, wen mir das Schicksal da über den Weg geschickt hat«, rief sie. »Sie sind der, der …«
»Leise.« Ich legte den Finger auf den Mund und versuchte zu gucken wie ein Junge, der einen Streich zugab. Jeanne erhob sich, musterte mich, schüttelte langsam den Kopf – und haute mir eine runter.
»Diese Backpfeife hat er sich verdient!« rief sie. »Trotzdem ist er der einzige Mann, den ich küssen würde.«
Applaus. Von einem Augenblick zum anderen gab es für die Gäste des Café Lemblin ein neues glückliches Pariser Paar, das soeben seine Verlobung beschlossen hatte. Halb Ernst, halb Spaß, bot man an, Trauzeuge zu sein, legte zusammen und spendierte einen Pflaumenschnaps. Noch heute bin ich all diesen gut gelaunten Café-Besuchern dankbar. Sie und der Schnaps bewahrten Jeanne vermutlich vor einem echten Zusammenbruch. Ihre fröhliche Ausstrahlung, das scheinbar wissende Lächeln, die Palette erotischer Blicke und zwinkernder Augen, die feisten Wangen und neugierigen Nasen – es war wie ein Geschenk. Jeanne gelang es, in diesen Minuten so weit zu sich zu finden, dass ihre Enttäuschung und die Schmach zu ertragen waren. Sicherlich, als wir wieder in ihre Wohnung zurückgekehrt waren, sie den Koffer erblickte und mit allen Sinnen begriff, dass es kein Zurück mehr gab – da wurde sie so wütend, dass sie mit Fäusten auf mich eintrommelte, gleichwohl sie zum Gotterbarmen weinte.
Zuhause erwartete mich eine Überraschung: eine Einladung von Comte de Carnoth. Da er, wie er schrieb, erstens nicht nachtragend sei, zweitens Hélènes Ende sich früher oder später auch ohne meine Intervention auf entsprechend unrühmliche Weise ereignet hätte, und ich drittens vom Schicksal bereits entsprechend „angegangen“ worden sei, biete er an, die alte unverkrampfte Bekanntschaft von sich aus wiederzubeleben.
Ich sagte zu.
Mein erster Weg jedoch führte mich zu Albert Joffe. Er ging davon aus - und ich teilte seine Einschätzung -, dass der Mord an Ludwig Oberkirch und der Mordversuch an meiner Wenigkeit in einem Zusammenhang standen. Aber welche gesicherten Spuren gab es bislang? Nur die ominösen Ritzzeichen im Fenster eines Schlafzimmers und ein Stilett, an dem Ludwig sich die Hände zerschnitten hatte. Denn davon war nach Analyse des Gerichtsmediziners auszugehen: Nicht der Mörder hatte Ludwig die Hände zerschnitten, er selbst war es gewesen.
»In dem verzweifelten Versuch, die zustoßende Klinge abzuwehren, wird er versucht haben, sie an der Schneide festzuhalten … Der Schmerz muss gewaltig gewesen sein. Baron Ludwig krümmte sich, und der Täter stieß ihm das Stilett in den Rücken. Vermutlich war er sofort tot.«
Die Analyse ging mir im Kopf herum, als ich die Eingangshalle betrat und mich beim Kanzlisten Boucicaut eintrug. Diesmal war die Visite flüchtig – eine, wie ich fand, logische, kriminalbürokratische Konsequenz, denn schließlich wurde ich hier nun als Opfer vorstellig.
»Sie machen Karriere, Monsieur Cocquéreau«, schnarrte ein krummer Polizist, der unbedingt hätte porträtiert werden müssen, so
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