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Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)

Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Liebert
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mich, ob eine Frau mit vierzig per se als alt gelten oder ob diese Lebensstufe nicht vielmehr als Abbild fortgeschrittener Jugend verstanden werden muss? Einer Jugend, die alle Genüsse langsamer verkostet und weniger experimentiert, weil ihr Geschmack sicherer geworden, ihre Seele aber romantisch geblieben ist?
    Hätte sie keine Schwindsucht, sie würde bald den Deckel finden für ihren Topf.
    Kaum gedacht, drehte sich Madame Berchod nach mir um. „Kommen Sie endlich!“ sagte sie. „Was grübeln Sie! Hier spielt das Leben. Schauen Sie!“ Sie lächelte und musterte mich mit zur Seite geneigtem Kopf. Ihre Augen waren groß und blank, für den Moment deutete nichts darauf hin, wie krank sie war.
    »Gaukler?« fragte ich.
    »Artisten. Sie haben ein Seil übers Wasser gespannt …«
    »Nun ja, dann werden sie naß, wenn sie herunterfallen.«
    »Sie verstehen schon wieder nicht, Monsieur Cocquéreau.«
    »Was?«
    »Alles.«
    Madame Berchods lachte auf und schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen: Du dummer Junge, was bist du bloß für ein Dummchen. Ich freute mich für sie. Das zynische Getöse über Tod und Selbstmord von vorhin schien vergessen, selbst in ihrem Gesicht fand ich keine Spuren ihrer Gedanken mehr. Was für eine anziehende Frau hätte sie sein können, wenn das Schicksal ihr die Schwindsucht erspart hätte.
    Diavolo, so hieß der Artist, gab sich die Ehre, die Strecke zwischen dem Quai des Morfundus und Quais de la Mégisserie über das Wasser zu nehmen. Das Seil war auf beiden Seiten an einem hohen Holzgerüst befestigt, das eine Plattform krönte. Trommelwirbel nebst Tamburin-Scheppern kündigte die Aktion an: Auch ich hielt die Luft an – denn nicht einer, sondern drei Mann in roten und weißen Pluderhosen bestiegen das Gerüst. Der mit den roten Hosen trug eine lange schwere Stange, an deren Enden kleine Sitzschalen befestigt waren. Keiner wollte so recht glauben, was er sah, und doch: Auf ein geheimes Kommando hin sprangen zwei Männer gleichzeitig auf die Stange, um sofort mit kleinsten Schritten auf ihre Sitze zuzugehen und sich darauf niederzulassen.
    Der Applaus war kurz. Es wurde still, und die Menge erstarrte. Denn nun schickte Diavolo sich an, über das Seil zu gehen. Die Stange bog sich unter ihrer Last, doch Diavolo hatte keine Eile. Er machte kleine Schritte, während an den Enden der Stange seine Mitstreiter lächelnd über das Wasser in die Ferne schauten. Indem das Seil sich spannte, schien es, als stiege er aufwärts, direkt in den Himmel, der auf der anderen Seite des Quais tatsächlich in ein graues Lichtblau getaucht war.
    Es war ein Wunder. Diavolos Ruhe, seine Konzentration und die unglaubliche Kraft, die in seinen sehnigen Armen steckte, hypnotisierte jeden. Er war der Herrscher zwischen Wasseroberfläche und Himmel, ein Gratwanderer, der um seine Stärke wusste und gelernt hatte, seine Energie auf das Präziseste einzuteilen. Irgendwann verlor ich das Gefühl, er könne es nicht schaffen oder gar in Gefahr geraten. Nur als ich meine Blicke den beiden anderen zuwandte, die ruhig am Ende der waagrechten Stange saßen, überkam mich wieder die Unruhe. Ich spürte, wie ausgeliefert diese beiden Männer waren. Sie hatten keine Möglichkeit, sich zu schützen und mussten Diavolo bedingungslos vertrauen. Sie konnten seine Bewegungen nicht sehen, ihnen blieb nur übrig zu warten – so lange, bis Schritt um Schritt getan war und Diavolo sicher die Luft über dem Wasser bezwungen hatte.
    Ich glaube, als er auf der anderen Seite angelangt war, hatte jeder das Gefühl, er selbst sei einer von den beiden Männern gewesen, die Diavolo über das Seil in den Himmel getragen hatte. Wir brachen in Begeisterungsstürme aus, doch kaum, dass alle drei sich verneigt hatten, nahm Diavolo Anlauf und rannte, als sei unter ihm fester Weg, zurück aufs Seil, wo er sich in einen fliegenden Merkur verwandelte. Im wilden Schwung sprang er hoch, scheinbar vorbei, und Fasste doch im letzten Augenblick wieder zu. Der Schreckensschrei blieb uns in den Hälsen stecken, doch da war Diavolo schon dabei, ein Rad zu schlagen, vor- und rückwärts, und dies mit der Schnelligkeit eines Uhrwerks.
    »Und? Haben Sie es verstanden?« fragte mich Madame Berchod im Café Foy des Palais Royal, wo wir uns von der Aufregung erholten und Journale durchblätterten.
    »Sie meinen die Fähigkeit, sich und damit die nächsten Angehörigen im Gleichgewicht zu halten?«
    »Auch, aber ich finde die Meisterung der Angst viel

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