Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
Pfund Schlepplast zum Ächzen brachte, dann fühlte man sich so erhaben wie ausgeliefert.
Die Chausseen entlang der Marne bis Chàlons waren leidlich, bis Nancy für einen Gesunden auszuhalten, von da an bis nach Strasbourg jedoch nur noch für solide beziehungsweise unsensible Kreaturen gustabel. Dies kann freilich auch an der schwindenden Kraft liegen, denn in den lächerlichen sechs Stunden Nachtruhe, die einem vergönnt sind, freut man sich so sehr, endlich zu liegen, dass man glattweg vergisst, einzuschlafen. Frühstück und Dîner fielen auf ein Uhr mittags zusammen, ein Uhr nachts wurde soupiert.
Nichtsdestotrotz war diese meine erste Reise in einer Diligence für mich ein heiteres Unterfangen. Nebst mir reiste nur ein Delikatessenhändler noch bis nach Strasbourg, ein geschniegeltes Individuum gleichen Alters mit feinem Lächeln, schlank, kraushaarig und einem köstlichen Säuferzinken. Der gute Alphonse Lemaître führte sechs Flaschen Zwetschgenbrand im Handgepäck mit, die er bis auf eineinhalb Flaschen so gut wie selbst verbrauchte. Der Rest ging auf meine Leber, die anderen Reisenden – allesamt Witwen und Großmütter – hielten sich lieber ans Bier. Alphonse übrigens war ebenfalls bei Diavolos Seiltanz-Kunststücken zugegen gewesen und erzählte mit lachenden Augen, dass er die Darbietung nicht mit Sous belohnt hatte, sondern einem Gutschein: einzulösen in seinem Delikatessen-Geschäft an der Rue des Prouvaires.
»Kurz vor Geschäftsschluß kam Diavolo höchstpersönlich, um den Gutschein einzulösen. Er wollte Öl, Brot und Oliven. Ich glaube, ich darf behaupten, ich war freigiebig. Diavolo bedankte sich und schaute mir dabei fest in die Augen. Mir wurde ganz schummrig von seinem Blick, so etwas habe ich noch nie erlebt. Er schaute …«
»Wie denn?«
Ich wollte mir keinen allzu großen Scherz auf seine Kosten erlauben, aber Alphonse ein wenig zu hypnotisieren – es juckte mich sozusagen in den Fingern. Also fragte ich ihn noch einmal und während er versuchte, mir Diavolos suggestive Blicke zu veranschaulichen, begann er allmählich, mich mit dem Akrobaten zu verwechseln. Aus Monsieur Cocquéreau wurde Monsieur Diavolo, der eine ganze Stunde lang erzählen sollte, wie ihm und seinen Gefährten Brot, Oliven und Öl geschmeckt hatten.
»Jetzt hat er sich krank geschnapselt«, sagte das Mütterchen Lully neben ihm ernst und krähte Alphonse schließlich an, dass ich genau so wenig Diavolo sei wie sie La Belle Fontanon.
Alphonse nun erklärte seinerseits Madame Lully für überaltert und entschuldigte sich sogar für sie. La Belle Fontanon, Madame, meinte er reichlich spitz, sollte sich eine anständige Witwe nicht als Vorbild nehmen. Nur ein Mann dürfe sich dieses Namens bedienen und das auch nur hinter vorgehaltener Hand.
»Nicht wahr, Diavolo?«
»Ach, das bisschen Sünde«, gab ich zurück.
»Eben«, pflichtete mir Witwe Lully bei. »Dass dieser Magier sie wieder auf die Beine gebracht hat, ist doch eine feine Sache. Wieviel Glück vermag sie euch Herren jetzt wieder zu schenken, Monsieur Lemaître? Oder wollen Sie etwa behaupten, Sie seien mit ihrer Frau zufrieden? Trinken tun Sie deswegen und verwechseln jetzt schon Seiltänzer mit ehrbaren Ärzten.«
»Diavolo, es ist mir peinlich!«, heulte Alphonse auf. »Das ist gräßlichstes mittelalterliches Vokabular. Ich versichere Ihnen: Für mich sind Sie keinen Deut weniger ehrbar als ein Arzt oder Rechtsanwalt. Im übrigen, Madame Lully: Ich bin nicht verheiratet und habe auch nicht vor, diesen Bund zu schließen. Denn verheiratete Männer sterben früher, wofür Sie ein gutes Beispiel sind …«
»Ich bin kein Mann, sondern Witwe!« rief Madame Lully, und die anderen Mitreisenden, zwei Tanten aus Versailles mit ihren bräsigen achtjährigen Neffen, denen die Köpfe nach saurem Rübenblatt stanken, lachten gellend.
»Und was für eine Witwe Sie sind!« rief Alphonse mit Schaudern und weit aufgerissenen Augen. »Wissen Sie Diavolo, unter uns, es gibt ja Personen, die … ach, ich weiß es ganz genau, was in deren Köpfen los ist! Sie lesen zu viele verderbte Romane und heizen sich daran auf wie prasselnde Kienäpfel: ‚Sie versuchte, sich stöhnend aus seiner Umklammerung loszumachen, wollte ihn zurückdrängen, aber doch warf sie den Kopf hin und her, um ihn zu provozieren, sie zu küssen. Und er? Ganz dicht hatte er sich an sie herangedrängt. Für ein paar Sekunden war sie ihm auf das Köstlichste ausgeliefert und genoß, wie er
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