Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
bedeutsamer. Für mich ist dies das Wesentliche. Die Artisten verstoßen sie kraft ihres Willens und machen sich stattdessen Raum und Zeit zu Verbündeten, statt sich von ihnen beherrschen zu lassen. Wenn sie auf dem Seil laufen, tun sie so, als lebten sie im Himmel, womit alle Angst nichtig wird. Die uns bedrückende Angst ist dem Boden zugehörig, ihr Einpeitscher ist die gnadenlose Zeit. Nur ohne Angst spüren wir die Energie der Welt – Energie, die uns die Artisten direkt vom Himmel herab geschickt haben.«
»Sie könnten recht haben«, sagte ich ausweichend, denn Madame Berchods Auslegung genauer zu durchdenken, dazu fehlte mir die Lust.
»Das habe ich auch«, entgegnete sie selbstbewußt.
»So wie Sie klingen, nehme ich an, dass Sie mit Ihrer Geschichte im reinen sind?«
»Ja.«
Madame Berchod langte über den Tisch und legte ihre Hand auf meine. Sie schaute mir intensiv in die Augen. Nach einer Weile lächelte sie und sagte leise, sie wisse jetzt, dass auch ich mit meiner Geschichte ins reine gekommen sei. Was wohl der Grund sei, dass ich mir jetzt einen ganzen Roman auf die Seele gelegt hätte. Ich seufzte und gestand ihr offenherzig, wie sehr Marie-Thérèse mich in ihren Bann gezogen hätte. Madame Berchod drückte meine Hand, streichelte sie flüchtig mit dem Daumen. Dann hoffe sie für mich, dass ich mich nicht täusche, antwortete sie leichthin, um sich dann verschwörerisch zu mir zu beugen und mir mit blitzenden Augen zuzuflüstern: »Aber erst einmal geht die Liebe ja in Lust auf, nicht wahr? Wie neidisch bin ich auf eure Stunden.«
»Sie schaffen es, dass ich rot werde«, entgegnete ich heiser.
»Das soll mir Lohn genug sein.«
Ihr Husten meldete sich zurück. Die für ein paar Momente beschwingte Madame Berchod, die zugegeben hatte, wie sehr auch Frauen ihres Alters noch irdisch-leiblichen Genüsse zugetan waren, vergraute wieder und fiel in sich zusammen. Übrig blieb nur ein zerknülltes Taschentuch und ein bitterer Mund.
Zum Glück brachte das Essen, nach meiner Empfehlung junger Hahn, neuen Aufschwung. Madame Berchod genoß jeden Bissen und schloss zuweilen die Augen. »So pur und fein. Er ist tatsächlich wohlschmeckender als ein Kapaun«, meinte sie nachdenklich. Wann gäbe es das noch einmal für sie: einen jungfräulichen Hahn. Ich sah ihr an, dass sie versuchte, sich den Geschmack einzuprägen, der ihre Phantasie anzuregen schien. Sie sah mir von unten herauf in die Augen und gurrte schließlich: »Monsieur Cocquéreau, wollen Sie mich zur Raserei bringen?«
Ich musste ein paarmal an diese Frage denken, als ich Stunden später am offenen Fenster saß und mich nach Marie-Thérèse verzehrte. Die letzten Geräusche des Tages schaukelten durch die Straßen, es wurde still. Den Kopf in die Hände gestützt, dachte ich an die Wonnen des Eros. Wind kam auf. Nieselregen setzte ein. Der Himmel hatte seine Sterne verloren. Die knospenden Zweige der Espen bewegten sich sachte, und ich hielt in Gedanken Marie-Thérèse in meinen Armen und tanzte ...
Die Koffer waren gepackt. Die Heimat wartete.
18.
Mit der Diligence reisen heisst Gesellschaft erleben, Geschwätz und Gerumpel aushalten, vor allem aber sich in Geduld üben. Die Strecke von Paris nach Straßburg zog sich über drei Tage und zwei Nächte hin. Auf besseren Chausseen hätte die Reise vermutlich kaum weniger lang gedauert, denn sechs Pferde bleiben nun mal nur sechs Pferde, und 6000 Pfund am Geschirr lassen sich kaum schneller ziehen. Wenn es nur noch Schritt ging, dachte ich an den Comte und sein Gewetter gegen die Engländer, die beschlossen hatten, das Reisen in Zukunft auf Schienen zu unternehmen und sich in den Kopf gesetzt hatten, Pferde gegen Dampfmaschinen auszutauschen. Während dieser Reise in dieser Diligence kam ich zur Überzeugung: Engländer, ihr habt recht, und du, Graf, gehörst nicht nur zum alten Eisen, sondern kannst in deinen satt gepolsterten und parfümierten Zweispännern sowieso nicht mitreden.
Unser Zug bestand aus den gewöhnlichen vier Wagen: vorne das Coupé mit dem Kutscher, dahinter das Kabriolet mit dem Kondukteur nebst sechsitziger Berline und Baggage-Wagen. Ein Ungetüm mit vierundzwanzig Beinen und sechzehn eisenbereiften Rädern, lang wie ein Haus und hoch wie ein Obstbaum. Bestiegen wurde diese Art Arche über Hühnerleitern, und wenn man dann acht Ellen über der Erde seinen Sitz eingenommen hatte, der Kondukteur ins Horn blies, die Peitsche knallte und sechs Kaltblüter die sechstausend
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