Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
Mouche viel Temperament hatte und der dicke Rudolf sie schlicht als ‚unseren Wildfang’ bezeichnete. Aber, so die Moral der Kirche, ein Abbé darf keine Kinder haben. Weswegen die himmlischen Mächte wohl beschlossen hatten, Mouche müsse sterben.«
»Du wirst schweigen, Petrus. Mouche war meine Enkelin. Sie ist nicht die Tochter von Balthasars Haushälterin gewesen, sondern die meiner Schwiegertochter. Wieder anders gesagt: Abbé Balthasar de Villers zeugte mit seiner Stiefschwester ein Kind. Deshalb die große Reise damals. Mouche lebte hier bis zum Frühsommer 1802. Ihre Eltern zerstritten sich, weil Balthasar verständlicherweise mißbilligte, dass seine heimliche Geliebte und Stiefschwester sich benahm wie eine läufige Hündin. Mouche kam auf das Gut der de Villers. Dort starb sie. Es war mein Wunsch, dass sie hier beigesetzt wurde.«
»Dann müßte Marie-Thérèse sie eigentlich kennen?«
»Unsinn. Jene Marie-Thérèse, für die Joseph sich heute als Impresario verdingt, entstammt dem Baratschen Mädchenpensionat in Amiens. Ich kann mich noch erinnern, dass er sie uns 1815 hier vorgestellt hat. Beide brachen darauf nach Wien auf. Sie soll von Beethoven-Schülern unterrichtet worden sein.«
»Das ist richtig, aber Marie-Thérèse selbst erzählte mir, sie sei auf dem Villerschen Gut groß geworden, bevor sie nach Amiens kam. Sie ist doch ein Waisenkind. 1798, als die Nidwaldischen Aufstände die Schweiz erschütterten, adoptierte Abbé de Villers sie!«
Muss ich schildern, wie verwirrt ich war? Meine Gedanken begannen, sich in immer seltsameren Bahnen zu bewegen, und prompt verschlug es mir für kurze Zeit die Sprache. An den Worten der Baronin zu zweifeln wäre unsinnig gewesen. Dass sie sich mir offenbart hatte, war ein hoher Sympathie- und Vertrauensbeweis, zudem war sie trotz ihres fortgeschrittenen Alters eine durch und durch klar denkende Person. Sie brachte bestimmt nichts durcheinander. Nach wie vor war sie ein Muster an Nüchternheit und Selbstbeherrschung, ging gerade, als hätte sie einen Stock verschluckt, und hielt die Nase buchstäblich forsch in den Wind. Die Kraft, mit der sie mir bei der Begrüßung die Hand gedrückt hatte, paßte zu einem Schmied. Aus den Erzählungen meiner Eltern wusste ich, dass sie auf ihre Schwiegertochter stets herabgesehen und den Abbé, um des Gutsfriedens willen, nur geduldet hatte.
Natürlich bemerkte die Baronin meine Konfusion, doch statt weiter zu sprechen, entschied sie, den Gärtner zu sich zu rufen, um ihm Anweisungen für die Pflege der Gräber zu erteilen. Blumen, Blumen und nochmals Blumen, befahl sie. Der Tod sei fad genug, ihre Idee mit dem Heidekraut sei falsch gewesen. Auch das war ein besonderer Zug dieser Frau: Sie konnte Fehler zugeben. Dies allerdings erst im nachhinein, wenn es schon nicht mehr zu ändern war.
Endlich gingen wir weiter. Zwischenzeitlich versuchte ich, mich mit aller Kraft an die kleine Mouche zu erinnern, aber das einzige, was mir einfiel, waren die Rangeleien Ludwigs und Philipps und Mouches Beerdigung. Zwei Bilder hatten sich mir eingeprägt: Zum einen, wie des Abbés Haushälterin vor dem Grab geweint und vor Schmerz in die Knie gegangen war, und zum anderen die widerlich vielen grün schimmernden Schmeißfliegen, die den kleinen Kindersarg so sehr belästigt hatten. Es war ein schwüler Tag gewesen und die Fliegen so gierig, dass ihr Summen selbst das Bimmeln der Totenglocke übertönt hatte.
Wie lange war dies alles her! Marie-Thérèse war damals vier Jahre alt. Vielleicht erinnerte sie sich ja doch noch an Mouche? Ein Grund mehr, endlich mit der Therapie ihrer Augenkrankheit zu beginnen.
Andererseits …
»Besteht eigentlich die Möglichkeit, dass Abbé de Villers gar nicht in Nidwalden gewesen ist?« fragte ich vorsichtig.
»Wer weiß«, sagte die Baronin belustigt. »Die Reise des sündigen Duos begann auf jeden Fall im Frühling 1798 und sollte nach Österreich gehen. Aber mir scheint, dir liegt was an dieser Marie-Thérèse? Da Ludwig nicht mehr ist, könnte ich mir vorstellen, dass Philipp und du sich jetzt Hoffnungen machen. Sie ist eine attraktive Erscheinung, nicht wahr? Selbst wenn sie angeblich so schlecht sieht wie ein alter Hund.«
»Man kann Ihnen nichts vormachen, Frau Baronin. In der Tat: Marie-Thérèse ist Philippe und mir nicht gleichgültig. Aber darf ich fragen, ob Ludwig und Philippe wussten, dass die kleine Mouche ihre Schwester war?«
»Nein. Wie du, was Philippe betrifft, jetzt damit
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