Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
umgehst, überlasse ich dir.«
Ich schwieg. Die hellgraue Wolkendecke über uns verflüchtigte sich, und ein blaßblauer Himmel kam zum Vorschein. Ein richtiger Frühlingstag kündigte sich an, und ich bekam Lust auf eine kleine Wanderung. Doch ein paar Fragen hatte ich noch. Das Jahr 1802 beschäftigte mich. Marie-Thérèse war gegen Ende des Jahres nach Amiens gekommen, die kleine Mouche im Spätsommer auf dem Gut der de Villers gestorben, und im Frühsommer hatten sich der Abbé und seine Stiefschwester zerstritten. Ich war damals zehn Jahre alt, die Welt der Erwachsenen lag für mich noch im dunkeln. Die Baronin hatte angedeutet, dass ihre Schwiegertochter damals ein neues Liebesverhältnis eingegangen war, und offensichtlich war es nicht bei diesem einen geblieben. Darüber zu spekulieren war unerheblich, denn vier Jahre später hatten sich der Abbé und seine Stiefschwester wieder ausgesöhnt. Er lebte wieder auf dem Oberkirchschen Gut, das der Familie hatte er nach dem Tod seiner Mutter verkauft. Ich erinnere mich, dass er seelsorgerisch tätig wurde. Ein paarmal besuchte er meine Mutter, der er im Dezember auch die Sterbesakramente verabreicht hatte.
Wir betraten wieder das Gutshaus, doch anstatt mich zu verabschieden, wünschte die Baronin, dass ich mit ihr die Räume ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter besuchte. Mein Herzschlag beschleunigte sich, und ich spürte, wie mir das Blut die Ohren rot werden ließ. Nichts hatte sich im Salon verändert: Die weiß- und blaßblauen Tapeten verströmte noch immer diesen mediterranen Flair, der mich damals so angezogen hatte. Die Möbel waren hell gebeizt, auf dem Parkett lag ein großer Blumenteppich, und in den weißen Porzellanleuchtern an den Wänden steckten honigduftende Kerzen. Stand man in diesem Raum, überfiel einen die Lust, sich in luftige Kleider zu hüllen, Obst zu essen und Champagner zu trinken. Als ich ihn das erste Mal betrat, um der Baronin einen Sommerblumenstrauß zu bringen, ruhte sie in einem duftigen Gewand auf der Chaiselongue und trank Tee. Mir waren fast die Augen aus dem Kopf gefallen, denn das Gewand war so lose geknotet, dass ich … ja, dass ich eigentlich alles sah.
Ob sie mir gefalle? hatte mich die Baronin gefragt.
Natürlich! rief ich, und noch heute erinnere ich mich, wie sie darauf zu kichern begann und in schallendes Gelächter ausbrach. Meine verstörte Begeisterung, diese impulsive Ehrlichkeit, die alle Etikette auslöschte, führte dann dazu, dass die Baronin sich von der Chaiselongue erhob, sich dicht vor mich hinstellte und mir lüstern durchs Haar fuhr. Meine Augen hätten es ihr angetan, sagte sie und bekannte, sie wolle sie beobachten und sich an ihrem Glanz und Ausdruck weiden.
»Ich schaue dich an und du mich. Was du willst, wo du willst. Fang an.«
Nun – ich begann. Woher ich den Mut nahm, weiß ich nicht. Wahrscheinlich glaubte ich damals, ich träumte, andererseits war die Situation dermaßen abenteuerlich und absurd, dass ich wohl instinktiv genauso handelte, wie es auf einmal möglich war. Es ist das Privileg dieser Jugendjahre, derartige Phantasiewelten lebendig werden zu lassen und eine solche, ja letztlich reine „Theaterwelt“ tatsächlich so selbstverständlich zu bespielen, als sei dies ganz natürlich.
Eine halbe Stunde später dann lag ich im Bett der Baronin, und ich glaube, sie war mit meinen ersten beiden Versuchen sehr zufrieden.
Das Bett der Baronin.
Ihre Schwiegermutter öffnete die Tür, die ins Schlafzimmer führte und zeigte darauf: jenes breite schmiedeeiserne Bett, das nicht quietschte, harte Matratzen hatte und irgendwie die richtige Höhe. Es stand am selben Fleck neben dem Porzellanofen, in dessen pastellfarbenem Schmelz sich die Bettwäsche spiegelte.
»Du kennst ja alles.«
»Wie bitte?«
»Du warst sechzehn, nicht wahr?«
Ich wäre am liebsten im Boden versunken.
»Sie wissen es?«
Mehr brachte ich nicht heraus. Meine Verlegenheit wuchs derart an, dass ich auf einmal nicht mehr wusste, wohin mit den Händen.
»Gehen wir! Im nachhinein glaube ich, kannst Du von Glück sagen, dass Balthasar nie zum falschen Zeitpunkt aufgetaucht ist.«
»Hat er es gewußt?«
»Schweig. Es ist vorbei.«
19.
In der Tat, das waren alles alte Geschichten, die nur der Aufklärung eines Rätsels, doch nicht meiner Zukunft dienten. Diese würde, da war ich mir sicher, um vieles süßer sein als die Vergangenheit bitter. Wie gut wäre es, wenn ich loslassen könnte, doch das würde erst
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